17. Juni - Reden zum Tag der Deutschen Einheit, Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 1964, Zusammengestellt von Herbert Hupka


Willy Brandt
Regierender Bürgermeister von Berlin

Dies ist nicht nur ein Tag der Trauer. Dies ist auch ein Tag stolzer Erinnerungen. Wir wissen: unsere Landleute drüben wollen heute dasselbe. Sie wollen frei sein. Sie wollen mit uns vereint sein. Und das wollen wir auch.

Wir können unser Ziel nicht von heute auf morgen erreichen. Aber wir verzichten auf den Rat überkluger angeblicher "Realisten", die die deutsche Frage nicht sehen oder sie nicht sehen wollen. Wer zwar das Gras wachsen hört, nicht aber die Töne des Herzens, der kann uns gestohlen bleiben. Der Wunsch von 70 Millionen Menschen, die Freiheit des einen Teils zu bewahren und die Freiheit des anderen Teils zu erringen, das ist auch eine Realität.

Es gibt immer wieder Situationen, in denen die Wege eines Volkes dunkel sind. Während der Blockade haben wir nicht gewusst, wann und wie sie zu Ende gehen würde. Das war kein Grund, uns mit ihr abzufinden. Auch der 13. August hat uns nicht verleiten können, uns aufzugeben.

Man weiß überall: wir geben uns nicht auf. Man muss auch überall wissen: das Ulbricht-Regime ist keine Sache des Volkes. Die Sowjetunion schadet uns, aber sie schadet auch sich selbst, wenn sie an jenem Fremdregime festhält. Nicht nur das Leben dieses Volkes, auch der Frieden in Europa, auch das Verhältnis zu Rußland werden schrecklich belastet durch jene Leute, deren Visitenkarte die Mauer ist, durch jene Leute, die sich nicht anders zu legitimieren vermögen als durch Stacheldraht und Flüchtlingsmord. Jawohl, ich habe Flüchtlingsmord gesagt. Und ich füge die Anklage des Mordes an Kindern hinzu!

Der Regierende Bürgermeister dieser Stadt muß manches hinunterschlucken. Er kann nicht immer alles sagen, was er sagen möchte. Er ist gewohnt nachzudenken, bevor er spricht. Sie wissen alle, was ich damit sagen will. Aber niemand soll sich täuschen: Wir werden nicht den bequemen Weg gehen, sondern den Weg, den uns das Gewissen vorschreibt.

Berlin hat neue Aufgaben, aber es behält seine eigentliche Funktion. Die Stadt diesseits der Mauer wird ausgebaut. Sie wird schöner werden. Sie soll strahlen. Aber nicht nur damit wir es hell haben, sondern damit von hier auch etwas hinüberleuchtet. West-Berlin ist kein Selbstzweck. Wir sind nicht irgendeine Stadt, die schön und modern sein soll. Eine Stadt der Wirtschaft, des Wohnungsbaus, der Wissenschaft und der schönen Künste. Das soll auch sein. Und es soll mehr sein als bisher. Aber Berlin bleibt in der Verantwortung der eigentlichen deutschen Hauptstadt.

Wir denken nicht daran, denen ihre Verantwortung abzunehmen, die die Mauer gebaut haben. Keine Noten, kein Geschrei können einen Deut daran ändern: die Mauer ist zu elementar-brutal, als dass sie entschuldigt werden könnte. Sogar Russen haben gesagt, sie könnten nicht verstehen, dass hier Deutsche auf Deutsche schießen.

Da war ein 15jähriger Junge. Mit sieben Schußverletzungen liegt er in einem Krankenhaus. Für sieben Verwundungen wurde im Krieg das Goldene Verwundetenabzeichen verliehen. Und das war Krieg! Den 12jährigen Wolfgang Glöde, ein Kind noch, ließ man mehr als eine Stunde mit seinem Lungenschuß liegen. Heute ist er tot. Wir wissen von vielen Toten, schon zu vielen.

Was an dieser Mauer geschieht, ist nicht nur eine Schande, es ist ein Verbrechen. Ich klage das Regime in Ost-Berlin an: Der Schießbefehl ist ein Bruch der Haager Landkriegsordnung! Sie verbietet die Tötung von Wehrlosen und Verwundeten, sogar im Kriege, sogar zwischen verschiedenen Völkern. Wer diese Regeln bricht, gehört vor ein internationales Gericht! Das gilt auch für Einzelpersonen. Jeder Uniformierte drüben muss das wissen. Wer sich auf einen Befehl beruft und ein Verbrechen begeht, handelt nicht anders als ein Kriegsverbrecher und besudelt abermals den Namen unseres Volkes. Und die gerechte Strafe wird nicht ausbleiben.

Und wenn es kein internationales Recht gäbe, so gibt es das Gebot der Menschlichkeit. Ich rufe die Welt: seht her, an dieser Mauer wird das Menschenrecht mit Füßen getreten. Schüsse auf Wehrlose, sogar auf gehetzte Kinder, das muss jedes menschliche Empfinden empören. Das hat nichts mit Ideologie zu tun; in dieser Frage kann es keine Neutralität geben. Das ist allein eine Sache der Menschlichkeit.

Wir hier wissen, wo wir stehen. Wir werden die Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht hinnehmen. Wir werden uns das nicht gefallen lassen. Das gebietet nicht nur das Gesetz, das gebietet auch das Gewissen. Ich kann es nicht anders sehen. Ich fordere noch einmal in aller Form: Weg mit dem Schießbefehl!

Und noch eines: eher würde ich nicht mehr Bürgermeister sein wollen als Anweisungen zu geben, die die Mauer als etwas Rechtmäßiges respektieren. Wir wissen uns zu beherrschen. Wir haben uns mit Geduld gewappnet. Aber ein Wurm krümmt sich noch, wenn er getreten wird. Und wir sind keine Würmer.

Jeder unserer Polizeibeamten und jeder Berliner soll wissen, dass er den Regierenden Bürgermeister hinter sich hat, wenn er seine Pflicht tut, indem er von seinem Recht auf Notwehr Gebrauch macht und indem er verfolgten Landsleuten den ihm möglichen Schutz gewährt.

Diese Stadt will den Frieden. Aber diese Stadt will auch frei sein. Wir haben nicht die braune Vergangenheit hinter uns gebracht, um unseren Nacken noch einmal zu beugen. In der Zone ist die Lage schlecht, nicht, weil unsere Landsleute weniger tüchtig wären als wir. Sie ist schlecht wegen der Unfähigkeit des Regimes. Man kann die Zonenkrankheit nur heilen, wenn man einsieht: Das deutsche Volk will und wird nicht kommunistisch werden. Es will frei sein und im Frieden mit seinen Nachbarn leben.

Das Experiment Ulbricht ist in Wirklichkeit gescheitert. Man sollte es liquidieren - je eher, desto besser. Sonst wird man in aller Form Konkurs anmelden müssen. Was Ulbricht sagt und was er verspricht, kann schon darum nicht eintreffen, weil er den Willen des Volkes nicht wiederzugeben vermag. Wenn er das täte, müsste er sich um einen anderen Aufenthaltsort bemühen, zum Beispiel auf der Krim.

Wir rufen in voller Ehrlichkeit nach Ost und West: Die Deutschen werden sich mit der Teilung nicht abfinden! In Europa wird es keine Ruhe geben, solange das Recht auf Selbstbestimmung sich nicht auch hier durchgesetzt hat. Solange nicht auch hier erreicht ist, was die Charta der Vereinten Nationen der gesamten Menschheit verspricht.

Wir sind nicht gegen Verhandlungen, wir sind nicht gegen vernünftige Zwischenlösungen. Aber wir sind gegen Nichtstun, gegen Resignation und gegen faule Kompromisse. Die Freiheit von ein paar Millionen Menschen hier in Berlin ist so viel wert wie die Freiheit der Menschen in der übrigen Bundesrepublik. Der eigentliche Sinn unseres Ringens aber liegt darin, die Freiheit gewinnen zu helfen auch für unsere 17 Millionen Landsleute hinter der Mauer.

Die Berliner sehnen sich mit dem ganzen deutschen Volk nach einer Friedensregelung, die der Sicherheit aller Beteiligten entspricht - in Ost und West und im eigenen Land. Der Westen braucht sich keinen Tag zu fürchten, über einen Friedensvertrag für Deutschland zu verhandeln. Der Westen kann es sich leisten, viele Tage lang zu verhandeln. Er kann es sich nicht leisten, überfahren und hinters Licht geführt zu werden.

Was uns angeht: Wir vertrauen unseren Freunden. Sie werden uns nicht im Stich lassen. Und sie wissen, woran sie bei uns sind.

Mein herzlicher Dank gilt in dieser Stunde allen Berliner Mitbürgern. Unser Gruß gilt den Freunden jenseits der Mauer. Den Völkern aller Welt rufen wir zu: Vergesst nie, dass es hier nicht nur um uns geht. Hier geht es um euch mit. Hier geht es um unsere und eure Bürde, um eure und unsere Chance. Zusammen werden wir es schaffen.

17. Juni 1962