Ilko-Sascha Kowalczuk/Stefan Wolle: "Roter Stern über Deutschland", Sowjetische Truppen in der DDR, Berlin: Links, 2001, S. 167 ff. (Auszug)


Volksaufstand in der DDR im Juni 1953

Der Volksaufstand vom 17. Juni 1953 war eine der wenigen demokratischen Massenbewegungen der deutschen Geschichte. In über 560 Ortschaften der DDR kam es zwischen dem 17. und 21. Juni 1953 zu Streiks, Demonstrationen, Protesten und zur Verhängung des Belagerungszustandes durch die Besatzungsmacht. 6 Die Zentren des Aufstands lagen in Berlin, im mitteldeutschen Industriegebiet, in Großstädten wie Halle, Magdeburg, Leipzig sowie in kleineren Städten wie Görlitz oder Jena. Aber auch auf dem Land kam es zu Protestaktionen.

Kaum ein anderes Ereignis der deutschen Geschichte nach 1945 unterlag in so hohem Maße der politischen Instrumentalisierung und Mythisierung. Im Westen wurde der 17. Juni als "Tag der deutschen Einheit" gefeiert und war am Ende doch nur noch eine sozialpolitische Errungenschaft - ein Tag zusätzlich arbeits-. und schulfrei. Im Osten wurde der 17. Juni für die einen zu einem Tag, an dem das Volk seinem Willen nach Freiheit Ausdruck verliehen hat, für die anderen zum traumatischen Erlebnis, weil sie begreifen mussten, wie instabil ihre Macht war. Die SED-Propaganda bezeichnete den Aufstand als "faschistischen Putschversuch" und behauptete, er sei von westlichen Agenten gelenkt worden. Nichts von dem hält einer wissenschaftlichen Überprüfung stand. Der Aufstand brach völlig unorganisiert und spontan aus. Schuld waren allein die durch die Machthaber verschuldeten unerträglichen Lebensverhältnisse. Die westlichen Geheimdienste und Regierungsstellen waren von den Ereignissen nicht weniger überrascht als der Staatssicherheitsdienst. In den Forderungskatalogen dominierten überall im Lande politische Ziele, insbesondere die Forderung nach freien Wahlen. Gerettet wurde das SED-Regime und damit die DDR allein durch die Sowjetarmee. Die Staatsorgane der DDR waren desorientiert und befanden sich teilweise in Auflösung, als die Besatzungsmacht das Kriegsrecht verhängte.

In der Sowjetunion und in den sowjetischen Regierungsstellen in der DDR ist die Krise zwar erkannt worden, aber dass sich darauf eine Volkserhebung entwickeln könnte, haben sie ebenso wenig vorausgesehen wie die SED-Führung. In der Nacht vom 16. zum 17.Juni 1953 trafen sich Semjonow und Gretschko mit Ulbricht, Grotewohl und Zaisser, um ein eventuelles Eingreifen der Polizei-., Militär- und Sicherheitsapparate vorzubereiten. Ein solcher Einsatz war nur für Berlin vorgesehen. Gretschko und Semjonow teilten den Standpunkt ihrer ostdeutschen Gesprächspartner, wie sie am 17. Juni 1953 um 7.26 Uhr morgens über die WTsche-Leitung nach Moskau ans Politbüro durchgaben, dass die Unruhen am 16. Juni von West-Berlin aus organisiert worden seien 7. Weder die Geheimdienste noch die politischen Führungsetagen in Moskau und Berlin schätzten die Situation als bedrohlich ein 8.

Große Teile der Sowjetarmee übten Mitte Juni in Manövern. Dadurch waren sie am 17. Juni besonders einsatzbereit. Zugleich erklärt das auch die Beobachtung zahlreicher Zeitzeugen, dass viele Panzer vom Typ T-34 stark verschmutzt und mit regelrechten Dreckkrusten übersät in den Städten einrollten. In der Nacht zum 17. Juni 1953 wurden Truppen der sowjetischen Streitkräfte aus dem Raum Königs Wusterhausen nach Karlshorst verlegt, um die dort stationierte 12. Panzerdivision zu verstärken. Es handelte sich um zwei Regimenter der 1. Mechanisierten Division der GSBT und um ein Bataillon des 105. Regiments des sowjetischen Innenministeriums. Auch in vielen anderen sowjetischen Garnisonen - ob nun in ihren festen Stützpunkten oder im Manövergelände- wurde erhöhte Gefechtsbereitschaft befohlen. Die sowjetischen Einheiten sollten zunächst strategisch wichtige Objekte und die Sektorengrenze innerhalb Berlins absichern sowie Patrouillen organisieren. Den Oberbefehl über die sowjetischen Einsatzgruppen übernahm Marschall Gretschko. Sie bildeten die letzte Reserve, an ihren Einsatz war zunächst nicht gedacht.

Gleichzeitig ist praktisch der gesamte ostdeutsche Polizei- und Sicherheitsapparat in Berlin in höchste Alarmbereitschaft versetzt worden. Der zentrale Leitungsstab für Berlin nahm seine Arbeit am Sitz des MfS in der Berliner Normannenstraße unter Minister Zaisser auf. Außerdem formierte sich eine Einsatzleitung für die Polizeikräfte im Polizeipräsidium. Gehandelt werden durfte nur nach Rücksprache mit der SKK-Zentrale in Karlshorst, wo Gretschko und Semjonow weisungsbefugt waren. Diese wiederum erhielten ihre Befehle aus Moskau. Bereits am 16. Juni hatte die SED-Führung in Karlshorst um die Erlaubnis nachgesucht, gegen die zigtausend demonstrierenden Bauarbeiter in Berlin vorgehen zu dürfen. Nach einer Rücksprache mit der Führung in Moskau lehnten die sowjetischen Statthalter in Karlshorst dieses Ansinnen aber noch ab.

Im Umland von Berlin wurde die Kasernierte Volkspolizei (KVP) nachts um 2 Uhr in Alarmbereitschaft versetzt. Gegen 5 Uhr ist die höchste Alarmstufe ausgelöst worden. Allerdings rechnete in den Einsatzzentralen niemand mit einem ernsthaften Einsatz. In den Morgenstunden verbreitete sich die Protestbewegung jedoch rasend schnell über das gesamte Land. Die Polizeikräfte konnten kaum die eigenen Gebäude sichern. Sie reichten nicht aus - die Staatsmacht war völlig unvorbereitet und schreckte zudem lange Zeit vor dem Einsatz von Waffengewalt zurück. In den meisten Einheiten hatte der Dienst am 17. Juni 1953 früh ganz normal begonnen - viele Einheiten rückten sogar zur Ausbildung aus. Die Lage war aus Polizeisicht chaotisch. Die im Laufe des 17. Juni an allen Brennpunkten des Landes zum Einsatz gebrachten Einheiten der KVP waren überfordert und den Aufständischen unterlegen. Erst als die sowjetischen Truppen mittags oder nachmittags eingriffen, schlugen diese die Volkserhebung nieder. Den Russen fiel es außerdem leichter zu improvisieren, da die Truppen ständig auf Einsätze und Kampfhandlungen vorbereitet waren.

Als sich am Morgen in Ost-Berlin mächtige Demonstrationszüge formierten, stellte sich schnell heraus, dass die KVP-Einheiten weder von ihrer Ausrüstung noch von ihrer zahlenmäßigen Zusammensetzung her geeignet waren, die Protestierenden aufzuhalten. Sperrkordons, mit Gummi- und Holzknüppeln bewaffnet, gelang es nicht, die Massen wieder auseinander zutreiben. Schnell verlegte sich die Polizei in Berlin darauf, wichtige Objekte und Betriebe zu sichern, was u.a. auch mit dem Einsatz von Feuerwehren gelang. Ab 10 Uhr bewegten sich dann sowjetische Einheiten ins Stadtzentrum. Gegen Mittag begannen sie im Schritttempo Straßen und Plätze zu räumen. An verschiedenen Stellen, so am Leipziger Platz, in der Invalidenstraße und am Brandenburger Tor, kam es zum Einsatz von Schusswaffen, die gezielt als Salvenfeuer über und dann auf die Massen gerichtet wurden. Die Sowjets setzten drei Divisionen (die 1. und 14. Mechanisierte Division sowie die 12. Panzerdivision) in Berlin mit 600 Panzern ein. In den späten Nachmittagsstunden hatten die sowjetischen Einheiten die Lage wieder unter Kontrolle. Ost-Berlin war zudem vom Westteil der Stadt weitgehend abgeriegelt worden.

Bei den eingesetzte Kampfpanzern handelte es sich um T 34/85 (500 PS), ausgerüstet mit einer Panzerkanone (Kaliber 53), zwei Maschinengewehren und fünf Mann Besatzung 9. Ob in Berlin aus diesen MGs wirklich geschossen wurde, erscheint nach allen bislang bekannten Angaben als eher unwahrscheinlich. Am Brandenburger Tor und am Potsdamer Platz fielen die meisten Schüsse. Sowjetsoldaten zielten mit automatischen Waffen auf Demonstranten. Dabei sind mindestens zwölf Menschen tödlich getroffen worden. Sowjetsoldaten lagen zudem in Grünanlagen mit Kräften der Volkspolizei und KVP kriegsmäßig in Schußstellung. Wie in vielen anderen Städten haben auch in Berlin ranghohe sowjetische Offiziere zunächst versucht, die Menschenmassen auf ihren Panzern stehend mit Argumenten zu beruhigen und zu zerstreuen.

Befehl des Militärkommandanten des Bezirks Leipzig zum 17. Juni 1953

1. Ab 17. Juni 1953 ist in der Stadt und Bezirk Leipzig der Ausnahmezustand zu verhängen.

2. Ich verbiete ab sofort sämtliche Demonstrationen und Zusammenkünfte mit mehr als drei Personen in der Stadt. Sämtlicher Verkehr ab 21 Uhr bis 5 Uhr früh ist verboten.

3. Im Nichtbefolgungsfalle werden militärische Maßnahmen ergriffen.
4. Allen Bewohnern empfehle ich, sich an ihre Arbeitsplätze zu begeben, um weiterzuarbeiten zum Wohle des Deutschen Volkes.

Der Militärkommandant des Bezirks Leipzig
gez. Oberst Jazkewitsch
Leipzig, 17. Juni 1953

Aus: Gerhard Beier: wir wollen freie Menschen sein - Der 17. Juni 1953: Bauleute gingen voran, Köln 1993, S. 120


Der Aufzug Hunderter Panzer war bedrohlich genug. Sie brauchten nicht zu schießen. "Das laute Rasseln und fernhin tönende, dumpf schütternde Dröhnen allein war für viele erschreckend und furchterregend, doch zeigen Berichte und Filme aus Berlin, dass die Schießhemmung von vielen erkannt oder die Angst schnell überwunden wurde." 10. Die weltweit bekannt gewordenen Bilder aus Berlin, auf denen junge Männer die Panzer mit Steinen und Flaschen attackierten, waren alles andere als typisch für die Situation. Ein Panzer soll zwar tatsächlich manövrierunfähig gemacht worden sein. Aber Angriffe auf sowjetische Panzer oder Soldaten zählten in Berlin zu den Randerscheinungen.

Besonders brutal ging die sowjetische Armee in Jena und Magdeburg vor. Hier fuhren die Panzer mit hohem Tempo durch die Straßen - in den anderen Orten fuhren sie zumeist im Schrittempo - und schossen wahllos über und auch in die Menge. Zugleich wehrte sich die Bevölkerung hier am massivsten. In Jena wurden Straßenbarrikaden aus Straßenbahnwagen so geschickt errichtet, dass die sowjetischen Fahrzeuge regelrecht eingekesselt wurden. Aus Magdeburg, wo mindestens drei Demonstranten bei der Belagerung der Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei durch gezielte Schüsse aus sowjetischen Karabinern sowie drei deutsche Sicherheitskräfte (ein Polizist, ein MfS-Mitarbeiter und ein Gefängnisaufseher) durch Kopfschüsse ums Leben kamen, 11 berichteten viele Zeitzeugen von regelrechten Steinbombardements gegen die Panzer. Insofern war der militärisch scheinbar sinnlose Einsatz von Panzern gegen die unbewaffneten Volksmassen "merkwürdig logisch ....: Die trennende Stahlplatte bewahrte die Besatzungen vor dem direkten Mann-gegen-Mann-Konflikt, den die VP-Kräfte vielfach durchzustehen hatten." 12 Die sowjetische Militärführung verhängte über 167 der 217 Land- und Stadtkreise den Ausnahmezustand, der in Berlin und Leipzig am längsten, nämlich bis zum 9. Juli 1953 anhielt. "Als einzige Bezirksstadt blieb Suhl vor dem Ausnahmezustand bewahrt." 13

Oberbefehlshaber Gretschko setzte einen großen Teil seiner Militärmacht ein - insgesamt 16 Divisionen. Wie er am 17. Juni 1953 ans Moskauer Politbüro meldete, kamen dabei folgende Hauptkräfte in den genannten Großräumen zum Einsatz. "3. Armee - die 19. Mechanisierte Division in Magdeburg, das 136. Artillerie-Panzer-SFL-Regiment in Burg, die 13. Mechanisierte Division in Parchim, Ludwigslust, Perleberg, die 207. Infanteriedivision in Gardelegen, Stendal. 8. Gardearmee - die 20. Gardemechanisierte Division in Weimar, Jena, Zeitz, die 21. Gardemechanisierte Division in Halle, Merseburg, die 57. Gardeinfanterie-Division in Naumburg,
Weißenfels und ein Infanterieregiment in Eisenbach. 1. Gardearmee - die 11. Panzerdivision in Dresen (Hauptkraft) und Meißen, Königsbrück, die 8. Gardemechanisierte Division in Leipzig (Hauptkraft) und Borna, Grimma, die 9. Panzerdevision in Riesa, Oschatz und Zeithain, 3. Gardemechanisierte Armee - die 6. Gardepanzerdivision in Dessau, Wittenberg, die 9. Mechanisierte Division in Lübben, Cottbus, Spremberg, 4. Gardemechanisierte Armee - die 6. Gardemechanisierte Division in Bernau, Eberswalde, Bad Freienwalde, die 7. Gardemechanisierte Division in Fürstenwalde, Frankfurt/Oder. Die Motorrad- und das Haubitzen-Bataillon der 10. Panzerdivision in Brandenburg, die 25. Panzerdivision (ein Panzerregiment und ein Infanterieregiment) in Oranienburg." 14. Neben den genannten Hauptkräften kamen viele weitere Einheiten zum Einsatz, so etwa das 92. Karpaten-Rotbanner-Schützenregiment mit 478 Soldaten und Offizieren in Dresden. Im Laufe des Tages traf, aus Moskau kommend, zudem Marshall Sokolowski ein, der mit seinen großen Erfahrungen die Niederschlagung des Aufstands militärisch leiten sollte.


Bericht eines Berliner Streikführers

Zwei Tage später, am Morgen des 20.Juni gegen 4.30 Uhr, klingelte es an der Wohnungstür. Wie erwartet, wurde ich verhaftet. Man brachte mich in ein Ostberliner Polizeigefängnis. (...) Über die folgenden Verhöre durch den Staatssicherheitsdienst gab ich nach meiner Rückkehr aus Workuta dem SPD-Ostbüro im Dezember 1955 einen Bericht, den ich dort auf Band sprach. "Ich wurde am Montag, dem 22.8.1953, erstmalig vernommen, und zwar von einem älteren, höheren Offizier des SSD. Er war etwa 40 Jahre alt. Meine Aussagen lagen für mich fest, was ich vor der gesamten Belegschaft des Werkes getan (hatte), habe ich zu Protokoll gegeben. (...) Dieser SSD-Offizier versuchte, mich durch Drohungen und Anbrüllen zu beeinflussen, aber er hatte keinen Erfolg, als er mich entließ, schrie er mich noch einmal an: ‚Wir werden uns widersprechen!' Die Vernehmung hatte 2-3 Stunden gedauert. Am 23. Juni, nachmittags, kurz vor dem Mittagessen, wurde ich nochmals von einem SSD-Offizier, aber jüngeren und niederen Dienstgrades, vernommen. Dieser Offizier war aber intelligenter und zu mir höflicher. Nach ca. 1 Stunde und nur kurzem Protokoll entließ er mich" (...) Im Bericht aus dem Jahre 1955 heißt es weiter: "Kurze Zeit später wurde ich von einem sowjetischen Offizier abgeholt und mit der ‚grünen Minna' weggebracht (...) Die Fahrt endete im Untersuchungsgefängnis von Karlshorst (...) meine neue Unterkunft war das zum Untersuchungsgefängnis für den KGB umfunktionierte ehemalige Krebsforschungsinstitut. Die früheren Leichenzellen im Keller wurden als Gefängniszellen genutzt. (...) Nun begannen die endlosen Verhöre durch sowjetische Offiziere. (...) Man holte mich raus und brachte mich durch mehrere verschlossene Türen zwei Treppen höher in ein Vernehmungszimmer im 1. Stock. Hier saß an einem großen Tisch, der aus drei Tischen in T-Form zusammengestellt worden war, ein großer starke Russe mit hochgekrempelten Hemdsärmeln. Er sah wie ein Fleischer aus. Der Tisch war mit rotem Tuch belegt. Ich wurde aufgefordert, mich gegenüber dem Russen auf einen Stuhl zu setzen, der vor dem Mittelteil des Tisches stand. Ich setzte mich, mir kam es wie ein Bühnenstück vor, und saß, ohne dass der Russe mich zu bemerken schien. Er las Zeitung, das Fenster hinter ihm stand offen. Ich konnte zu einem anderen Flügel des Gebäudekomplexes schauen, es war ein moderner, großer Bau, büroähnlich. Ich sah geschäftige Männer in Zivil in den Räumen gegenüber sich bewegen. Langsam kam die Nacht, die Lichter in den Räumen gingen aus, die Scheinwerfer wurden angezündet, und die Bäume vor den Fenstern erschienen im Schweinwerferlicht. Der Russe schien mich nicht zu bemerken, ich wartete weiter. Anfangs war ich gespannt, was nun geschehen würde. Ich war auf alles gefasst, aber nichts geschah, und ich zwang mich, nicht zu denken, um nicht nervös zu werden. Die Sterne funkelten am klaren Abendhimmel - plötzlich schreit mich der Russe an: ‚An was denken Sie?' Meine Antwort war: ‚An nichts.' Da fing er an zu toben, mit den Armen zu fuchteln und zu schreien: ‚Die erste Frage, die ich an Sie stelle, beantworten Sie mit einer Lüge! Was soll ich von Ihnen denken? Ich will Ihnen helfen, und Sie lügen mich an! Überlegen Sie sich sofort, an was Sie gedacht haben, aber ehrlich! Wenn Sie weiter lügen, bekommen Sie eine große Strafe!' Nach einer Weile erneuten Wartens die gleiche Frage. Von mir wieder die gleiche Antwort. Dies geht so einige Male hin und her. Dann ruft er den Posten an, und ich komme zurück in die Zelle, mit der Bemerkung, mir genau zu überlegen, an was ich gedacht habe. In der Zelle liegt jetzt eine Decke und eine Auflegematratze. Ich lege mich sofort wieder hin und bin auch wieder eingeschlafen, da ich mich dazu zwang, um meine Kräfte zu sparen. Wie lange ich geschlafen hatte, weiß ich nicht, denn die Uhr, die im Gang des I. Stockes hing, stand, so dass ich, als ich das zweite Mal in dieser Nacht nach oben gebracht wurde, nicht sehen konnte, wie spät es war. Wieder fragte mich der gleiche Untersuchungsrichter, an was ich gedacht habe. Ich wollte es nicht auf die Spitze treiben und antwortete ihm, dass ich an meine Frau und Kinder gedacht habe. Nun von der anderen Seite einige Vorhaltungen, warum ich nicht gleich die Wahrheit gesprochen habe usw. usw. Dann eine neue Frage: ‚Weshalb ich dann überhaupt hier sei?' Darauf antwortete ich: 'Weil ich verhaftet worden bin. Da fängt er wieder laut zu brüllen an und zu toben. Er schreit mich an, ich sei nicht verhaftet worden, sondern freiwillig da hingekommen. Dies weise ich natürlich sofort zurück, worauf er noch mehr tobte, dann sah er wohl ein, dass ich nicht freiwillig gekommen sei und eröffnete mir, dass ihn mein Schicksal gar nicht interessiere und er auch gar keine Zeit gehabt hätte, um meine Akten zu lesen, sondern er nur wissen möchte, ob ich ehrlich sei, und ich soll ihm sagen, weshalb ich hier wäre. Ich antwortete ihm, dass ich mir keiner Schuld bewusst sei und es auch nicht weiß, warum ich hier bin. Wieder die alte Brüllerei mit Drohungen usw." (...) Nach den Behauptungen des NKWD hatte ich "Spionage für den Westen" betrieben und war ein "Schumacher-Agent". Dies traf insoweit zu, als ich ... in der Tat für das Ostbüro der SPD tätig gewesen war. Doch hatten die Vernehmer hierfür keinerlei Beweise. (...) Nach monatelanger Einzelhaft und täglichen, nächtlichen Verhören - manches Mal bis in die frühen Morgenstunden - sowie mehrmaligem Wechsel der Vernehmungsoffiziere fand am 1. und 2. Oktober 1953 die zweitägige Verhandlung vor einem Sowjetischen Militärtribunal statt., (...) Am ersten Tag (1. Oktober 1953) - die Verhandlung begann um 16.15 Uhr - bat ich gleich zu Beginn um das Wort und erklärte: "Ich bin Bürger der DDR und Sie haben der DDR die Souveränität erteilt. Ich habe nichts gegen die Sowjetunion unternommen, getan oder geplant. Sie haben die Macht, mich zu verurteilen, aber Ihr Urteil, gleichgültig, wie es ausfällt, werde ich niemals anerkennen." (...) Gegen Abschluss verteidigte ich mich mit dem Argument, dass die Wahrheit keine Hetze ist. (...) Das Urteil lautete: 7 Jahre Arbeitslager (...) Im Gefängnis Lichtenberg blieben alle4 KGB-Häftlinge bis etwa Anfang 1954 - dann ging es wieder zurück nach Karlshorst. (...) Etwa Mitte Mai 1954 wurde ich aus meiner Zelle in Karlshorst geholt und mit weiteren Männern zum Ostbahnhof gebracht. Hier stand der "Blaue Express" (ein fahrplanmäßiger Zug nach Moskau). An seinem Ende war ein Postwagen und, wie bei Postwagen wegen der "wertvollen Fracht" üblich, waren die wenigen Fenster vergittert. Aber es war ein getarnter Gefängniswaggon. (...) Anfang Juni kamen wir in Workuta an.

Siegfried Berger: "Ich nehme das Urteil nicht an" - ein Berliner Streikführer des 17. Juni vor dem Sowjetischen Militärtribunal, Berlin 1998, S. 20-42



An den Demonstrationen und Protesten nahmen 1 bis 1,5 Millionen Menschen teil. Es wurden 13 Volkspolizei-Dienststellen und Dutzende SED-, Blockparteien-, Massenorganisations- und örtliche Ratsgebäude sowie zwei MfS-Einrichtungen (Niesky und Görlitz) erstürmt. Außerdem versammelten sich vor 19 Strafvollzugseinrichtungen Demonstranten. In zwölf Gefängnissen kam es zu Gefangenenbefreiungen. Von knapp 1.400 befreiten Häftlingen waren am 30.Juni 1953 über 1.200 wieder eingesperrt. Mit welchen Mitteln die Behörden mit den eingesperrten Streikenden umgingen, hat Siegfried Berger detailliert beschrieben. Genaue Zahlen über die Toten existieren nicht. Die Angaben schwanken von etwa 50 bis 125. In einigen wenigen Ortschaften kam es auch zu Racheakten an Funktionären der SED und des MfS. Der Aufstand trug von vornherein eindeutig politische Ziele. Die Hauptforderungen lauteten: "Nieder mit der SED", "freie Wahlen", "Freilassung aller politischen Häftlingen", "Rücktritt der Regierung" und "Wiedervereinigung.".

Bei den Einsätzen kamen laut Berichten von Gretschko nach Moskau 33 Personen durch sowjetische und 17 durch ostdeutsche Truppen um. Er bestätigte zudem die 18 standrechtlichen Erschießungen von Aufständischen und vermeintlichen Rädelsführern. Hinzu kamen 294 Verwundete auf seiten der Demonstranten sowie über 8.000 Verhaftete. 15 Diese Zahlen sind umstritten und keineswegs als gesichert anzusehen.

Die drei westlichen Stadtkommandanten von Berlin protestierten, nachdem auch ihre Einheiten am 17. Juni in erhöhte Alarmbereitschaft versetzt worden waren, am 19. Juni bei den Sowjets und forderten sie auf, die Hinrichtungen einzustellen und den Einsatz von Waffen zu verbieten. Premier Winston Churchill hat sich über diese Protestnote gewundert und überrascht gezeigt, weil er zuvor nicht informiert worden sei: "Ich hatte den Eindruck," so Churchill am 19.Juni 1953, "dass sie (die Sowjets - d.Verf.) angesichts der zunehmenden Unruhen mit beachtlicher Zurückhaltung gehandelt haben." 16

Die Sowjets wählten die Taktik der massiven Einschüchterung der Bevölkerung. Es kamen insbesondere Einheiten mit Panzern zum Einsatz. "Man fuhr langsam, aber bestimmt, versuchte die Demonstrationszüge aufzuspalten und in Seitenstraßen abzudrängen." 17 Die sowjetischen Streitkräfte verlegten noch am 17. Juni zusätzliche Einheiten in Feldlager, um weitere Erhebungen zu unterbinden. Ein ständiger Patrouillendienst demonstrierte die Anwesenheit der Russen. Waffen sollten erst mit Schüssen über die Köpfe und, nur wenn dies nichts fruchtete, direkt auf die Demonstranten eingesetzt werden. Am 17. Juni 1953 gegen 14 Uhr hatte Semjonow per WTsche nach Moskau durchgegeben: "Den sowjetischen Truppen, die in der DDR wirken, und den Abteilungen der deutschen Volks- und Kasernenpolizei hat man den Befehl zum Waffeneinsatz in notwendigen Fällen und zur Verhaftung und Verurteilung der Anstifter der Unruhen gegeben." 18

Die Verhängung des Ausnahmezustandes bedeutete nicht nur, dass die Bevölkerung sich einem offenen Militärregime zu beugen hatte und ihre Alltagsgewohnheiten eingeschränkt wurden. Dies hieß auch, dass die Regierungsgewalt für die Zeit des Ausnahmezustandes offiziell wieder allein von der Sowjetunion in Gestalt des SKK und der sowjetischen Truppen ausgeübt wurde. Wenn Politbüromitglied Karl Schirdewan in seinen Erinnerung schreibt, dass ihn ein sowjetischer General am Vormittag des 17. Juni 1953 aufgefordert habe, den Schießbefehl zu erteilen, 19 dann ist das gleich in mehrfacher Hinsicht zweifelhaft: Die Russen wären überhaupt nicht auf die Idee gekommen, einen ostdeutschen Funktionär mit einer solchen Bitte zu behelligen. Die Macht dazu lag ganz allein in Moskau und Karlshorst. Wie Dolmetscher Bogomolow berichtet, drängte Ministerpräsident Bulganin Oberbefehlshaber Gretschko in den Morgenstunden des 17. Juni zum Einsatz der Panzer. Der wiederum musste einräumen, dass die entsprechenden Truppen noch nicht einsatzbereit seien, weil sie ihre Einsatzräume noch nicht erreicht hatten. Zweitens konnte Schirdewan einen solchen Befehl nicht erteilen, weil ihm nicht einmal die ostdeutschen Einsatzkräfte unterstanden. Drittens schließlich war Schirdewan zwar offenbar im ZK-Gebäude der mächtigste Mann, aber Ulbricht und der Rest des Politbüros hatten sich in Karlshorst in Sicherheit gebracht. Von hier aus gab es eine Standleitung direkt ins Zentralkomitee, so dass sowohl die Russen als auch Ulbricht über die Lage im Stadtzentrum jederzeit informiert waren. Aus verschiedenen Quellen ist überliefert, dass Ulbricht am 17. Juni 1953 die Macht als verloren ansah und eine erbärmliche Figur abgab. Auf Druck der Russen hin versammelte sich am 21. Juni 1953 das ZK zu seiner Sitzung, womit der Öffentlichkeit demonstriert werden sollte, dass Ulbricht und seine Genossen weiterhin an den Hebeln der Macht saßen.


18 Sowjetsoldaten standrechtlich erschossen
Ermittlungen der NTS ( Nacionalnyj Trudovoj Sojus = Nationaler Bund der Werktätigen)
Am Sonntag, dem 28. Juni, wurden im Sommerfeldlager des 73. Schützenregiments im Gebiet von Biederitz am frühen Morgen 18 Soldaten aus dem MP-Schützenkommando der Division, der das 73. Regiment angehört, erschossen. Die Erschießung wurde auf einer Waldlichtung durchgeführt, wozu das Sammelkommando der MP-Schützen geschlossen und unbewaffnet antreten musste.

Die Soldaten wurden in Dreiergruppen am Rande eines Massengrabes von einem Spezialkommando einer Sondereinheit erschossen. Bisher konnte weder die genaue Bezeichnung der Sondereinheit festgestellt werden, noch, wer den Schießbefehl unterzeichnet hat.

Zu den 18 Erschossenen gehörten: der Gefreite Aleksander Scherbina, der Unteroffizier Nikolai Tuljakow und der Soldat Wasili Djatkowski. Die Namen der übrigen sind nicht bekannt.

Das Sammelkommando der MP-Schützen war am 17. Juni aus verschiedenen Divisionsabteilungen zusammengestellt worden, zu denen auch das 73,. Regiment gehört, und wurde zur Unterdrückung des Aufstandes deutscher Arbeiter nach Magdeburg-Neustadt abkommandiert, wo der Angriff auf das Gefängnis angefangen hatte. Die Soldaten des Sammelkommandos griffen entgegen dem Befehl nicht zu den Waffen und ermöglichten dadurch die Befreiung von Gefangenen.

Der Revolutionsstab des NTS wandte sich in dieser Angelegenheit mit einer Sondermitteilung an die Soldaten und Offiziere der sowjetischen Besatzungstruppen. Außerdem veröffentlichte der Revolutionsstab des NTS einen Aufruf an die drei Divisionen, die während des Juni-Aufstands nach Berlin verlegt worden waren. Es handelte sich hierbei um die 12. Panzer-Gardedivision, die 1. und die 14. mechanisierte Gardedivision.

Aus: Rainer Hildebrandt: Der 17. Juni. Berlin 1983, S. 217 f.


Während der Volkserhebung hatte sich nicht nur der angestaute Hass gegen die SED, das MfS und die anderen staatlichen Einrichtungen gerichtet. Auch die sowjetische Besatzungsmacht bekam zu spüren, dass sie von breiten Bevölkerungskreisen keineswegs als Freunde willkommen geheißen waren. Ob und wie viele sowjetische Soldaten umkamen oder verwundet wurden, ist nicht bekannt. Der Korrespondenz der "Prawda" schrieb am 22. Juni 1953 einen langen Bericht an seinen Chefredakteur über die Ereignisse. Dieser Bericht, der auf dem Tisch von Chruschtschow landete, war nicht zur Veröffentlichung bestimmt. Darin hatte der Reporter auch über den "Russen Hass" berichtet, der sich während der Volkserhebung entlud: "Als die ersten Demonstrationszüge an der diplomatischen Mission der UdSSR in der DDR vorbeimarschierten, versuchten viele Leute zu schreien, zu pfeifen und Beschimpfungen auszustoßen. Augenblicklich sprangen Menschen (selbstverständlich speziell gewählt und angeleitet) hinzu, forderten auf, keinen Lärm zu machen, die Russen nicht zu provozieren. An den Ecken der Straßen standen Streikposten, und wenn irgend jemand aus der Menschenmenge ausscheren wollte, trieben sie ihn zurück.

Die Sowjettruppen erschienen am frühen Morgen in den Straßen von Berlin. Zuerst fuhren sie herum, ohne die Bewegung der Kolonnen zu behindern. Zuerst wurden sie von den Demonstranten mit Pfeifen und Brüllen begrüßt, und als die Stimmung sich aufheizte, begannen die Beschimpfungen. Ich hörte mehrmals : ‚Russische Schweine', ‚Affen'. Solche Beschimpfungen hörte man nicht nur aus den Reihen der Demonstranten, sondern auch von den Einwohnern, die Angst hatten, sich in die Kolonnen einzureihen. Man erzählte, dass sich Demonstranten in einzelnen Fällen auf Autos mit sowjetischen Soldaten, sogar auf Panzer, stürzten. Manchmal bewarfen sie die Soldaten mit Steinen. Einmal geriet unser Auto in die Mitte der Menschenmenge (es war noch morgens, die Leidenschaften waren noch nicht entbrannt). Als sie das sowjetische Kennzeichen gesehen hatten, kamen zu uns einige Jungen und schrieen bedrohend: ‚Russen, steigt aus!' Wir stiegen aus dem Auto und haben uns unter die Menschen gemischt. Mit dem Auto machten sie nichts. Zwei Stunden nach diesem Ereignis kippten die Banditen am Alexanderplatz das Auto des Vertreters von ‚Sowexportfilm', Genossen Pronin, mit ihm darin, um. (...) Besonders viele Ausschreitungen erfolgten am Alexanderplatz und in der Nähe des Polizeipräsidiums. Dort wurden die Autos umgekippt und angezündet, die Fenster im sowjetischen Geschäft 'Das Internationale Buch' wurden zerbrochen (...) Man muss zugeben, dass in der Volksmasse ein Hass gegen die sowjetischen Menschen erhalten blieb und jetzt wieder aufflammte. Im Laufe der Demonstrationen zeigte sich dieser Hass ganz deutlich. Noch einige kleine, aber charakteristische Tatsachen: Eine deutsche Frau, die bei uns am Rundfunk als Fernschreiberin arbeitet, wurde am Morgen des 17. Juni in einem Laden groben Beschimpfungen von etwa 50 Hausfrauen aus ihrer Nachbarschaft ausgesetzt. Man drohte, sie zu schlagen, weil sie ‚bei Russen' arbeitet. Alle im Laden waren gegen sie, die Verkäuferin auch. Sie wurde gezwungen, schnell aus dem Laden zu gehen. Die Nachbarn bedrohten auch unsere Putzfrau." 20

Über das konkrete Verhalten der Sowjetsoldaten ist bislang kaum etwas bekannt. Im allgemeinen versuchten sie, auf den Straßen Ruhe zu bewahren, während sie in den Betrieben selbst - in den SAG-Betrieben - oftmals rigoroser und brutaler vorgingen. Sowjetische Offiziere sollen Sprecher von Gruppen auch mit körperlicher Gewalt "zum Einlenken" gezwungen haben. Nach dem Juni-Aufstand flüchtete Major Nikita Ronschin in den Westen und berichtete, dass Soldaten wegen Befehlsverweigerung hingerichtet worden seien. Sie hatten sich geweigert, auf die unbewaffneten Aufständischen zu schießen. Eine russische Exilgruppe gab daraufhin eine Pressemitteilung in Umlauf, die seit dem archivalisch weder bestätigt noch entkräftet werden konnte.

Oberst Juri Bassistow, der am Zweiten Weltkrieg teilgenommen hatte, bis nach Berlin gelangt und dann ab 1959 in der DDR stationiert war, erzählt: "Es gab eine Gruppe von Militärangehörigen, die haben sich geweigert, die Schießbefehle zu erfüllen. Es waren, dies belegen deutsche Unterlagen, 23 im Raum Berlin und 18 im Raum Magdeburg. Diese Leute hatten den Mut, auf deutsche Bürger, Arbeiter , Intellektuelle, auch Bauern, nicht zu schießen. Sie wurden verhaftet, vor ein Schnellgericht gestellt und alle zum Tode verurteilt. Und sie wurden sofort erschossen. Wo sich ihre Gräber befinden, wissen wir bis heute nicht." Bassistow stützt sein Aussage auf ein nicht näher bezeichnetes deutsches Dokument aus dem SED-Archiv. In keinem bislang bekannt gewordenen Schriftstück findet sich aber auch nur der geringste Hinweis darauf, dass es solche Vorgänge gegeben hätte. Dies ist deshalb erstaunlich, weil über die standrechtlichen Erschießungen von Deutschen genau berichtet wurde. Hinzu kommt, dass fast alle in der DDR stationierten Soldaten zu jenem Zeitpunkt noch solche Militärangehörigen waren, die unmittelbar an den Kampfhandlungen des Zweiten Weltkrieges beteiligt gewesen sind. Sie befanden sich auf besetztem Feindgebiet, mit dem es keine vertraglich geregelte Friedensvereinbarung gab. Den Soldaten und Offizieren wurde zudem erzählt, es handele sich um einen von den westlichen Alliierten unterstützten faschistischen Putsch. Die Armeen sind in höchste Alarmbereitschaft versetzt worden, Kampfalarm, der auf einen bevorstehenden oder sogar bereits ausgebrochenen Krieg hindeutete. Was also hätte die Soldaten bewegen sollen, ihr eigenes Leben aufs Spiel zu setzen? Solange die Archive des sowjetischen Militärstaatsanwalts geschlossen bleiben, wird sich keine verlässliche Aussage treffen lassen, ob es sowjetische Soldaten gegeben hat, die sich am 17. Juni 1953 weigerten, den Befehlen ihrer Führung zu folgen.

Die Ereignisse um den 17. Juni 1953 waren für die weitere Geschichte der DDR grundlegend. Die SED-Führung hatte vor Augen geführt bekommen, dass eine deutliche Mehrheit der Bevölkerung gegen die kommunistische Herrschaft eingestellt war und diese lediglich erduldete. Den deutschen Kommunisten war 1953 zugleich unmissverständlich bedeutet worden, dass ihre Machtausübung allein auf sowjetischen Bajonetten beruhte. Die Bevölkerung wiederum musste leid- und schmerzvoll erfahren, dass die kommunistischen Machthaber solange ihre Herrschaft ausüben würden, solange sie die "internationalistische Hilfe" der sowjetischen Streitkräfte in Anspruch nehmen konnten. Schließlich hat die sowjetische Führung lernen müssen, dass sie ihre ostdeutschen Statthalter mit mehr Kompetenzen ausstatten müsste, um sie über außenpolitisches Renommee auch innenpolitisch zu stärken, was sie ab 1954 auch tatsächlich tat. "Es galt daher, die DDR nicht länger als 16. Sowjetrepublik zu behandeln, sondern sie auf eigene Füße zu stellen." 21 Die sowjetische Regierung verkündete im August 1953, dass zum 1. Januar 1954 die Begleichung der Reparationskosten eingestellt und die Besatzungskosten gesenkt werden. Außerdem wurden die letzten noch existierenden SAG-Betriebe - mit Ausnahme der Wismut - an die DDR zurückgegeben. Dazu zählten u.a. die Leuna-Werke, die Chemischen Werke Buna, die drei Magdeburger Maschinenbaubetriebe "Ernst Thälmann", "Karl Liebknecht" und "Georgi Dimitroff", die Filmfabrik Agfa Wolfen, das Sachsenwerk Niedersedlitz und die Elektroapparate Werke Berlin.

Die gescheiterte deutsche Revolution des Jahres 1953 bewirkte die innere Staatsgründung der DDR: In den folgenden Jahren wurde der gesamte Disziplinierungs- und Unterdrückungsapparat erheblich ausgebaut und intensiviert; die Strukturen von Partei, Staat und Wirtschaft wurden teilweise verändert; die Sowjetunion räumte der DDR-Regierung ab 1954/55 größere innen- und außenpolitische Spielräume ein; mental - ein wesentlicher Aspekt der inneren Staatsgründung - grub sich ins kollektive Gedächtnis ein, dass die SED jederzeit mit allen Mitteln und vor allem mit Unterstützung der Besatzungsmacht jede oppositionelle Regung unterdrücken würde.



Anmerkungen:

6 Einzeln aufgelistet sind die Orte bei: Kowalczuk, Ilko-Sascha; Mitter, Armin; Wolle, Stefan (Hrsg.): Der Tag X - 17. Juni 1953. Die "Innere Staatsgründung" der DDR als Ergebnis der Krise 1952/54. 2., durchges. Aufl., Berlin 1996, S. 336-343

7 Ostermann, Christian F. (Hrsg.): The Post-Stalin Succession Struggle and the 17 June 1953 Uprising in East Germany: The Hidden History. Declassifield Documents from U.S., Russian, an Other European Archives. Washington 1996 (Dokument 14)

8 Siehe auch die Einschätzung des MWD: Bailey, George; Kondraschow, Sergej A.; Murphy, David E.: Die unsichtbare Front. Der Krieg der Geheimdienste im geteilten Berlin. Berlin 1997, S. 211-229

9 Wiener, Friedrich (Hrsg.): Die Armeen der Warschauer-Pakt-Staaten, München 1974, S. 248

10 Hagen, Manfred: DDR Juni 1953. Die erste Volkserhebung im Stalinismus. Stuttgart 1992, S. 109

11 Magdeburg 17. Juni 1953, Magdeburg 1993, S. 87

12 Hagen: DDR Juni 1953, S. 122

13 Fricke, Karl Wilhelm: Zur Geschichte und historischen Deutung des Aufstandes vom 17. Juni 1953, in: Roth, Heidi: Der 17. Juni 1953 in Sachsen, Köln 1999, S. 56

14 Ostermann (Hrsg,): The Post-Stalin Succession Stuggle an the 17 June 1953 (Dokument 15)

15 Ebenda (Dokument 20)

16 Abgedruckt in: Beier: Wir wollen freie Menschen sein, S. 137

17 Diedrich, Torsten; Wenzke, Rüdiger: Die getarnte Armee. Geschichte der Kasernierten Volkspolizei der DDR 1952 bis 1956. Berlin 2001, S. 339

18 Abgedruckt in: Beier: Wir wollen freie Menschen sein, S. 109

19 Schirdewan, Karl: Aufstand gegen Ulbricht, Berlin 1994, S. 53-53

20 Abgedruckt in: Beier: Wir wollen freie Menschen sein, S. 166-168

21 Wettig, Gerhard: Bereitschaft zu Einheit in Freiheit? Die sowjetische Deutschland-Politik 1945-1955. München 1999, S. 262