Gabriele Schnell
Der 17. Juni 1953 in Potsdam


17. Juni 1953

"Die allgemeine Stimmung am 17.6. ... war so, dass der größte Teil der Bevölkerung davon überzeugt war, dass die Regierung abtreten muss und die SED ausgespielt hat", hält ein Bericht der SED-Stadtbezirksleitung Potsdam-Babelsberg fest.

Im Verlauf des Tages suchen Arbeiterdelegationen der großen Potsdamer Betriebe das Karl-Marx-Werk Lokomotivbau Babelsberg auf.

Im Volkspolizei-Bericht heißt es:
"Die Rädelsführer versuchten, die Werktätigen zu einer Demonstration zu veranlassen. Die Auswirkungen einer solchen Demonstration hätte zur Folge gehabt, dass sich ein großer Teil anderer Betriebe angeschlossen hätte ... Von den Delegationen, die zum Karl-Marx-Werk entsandt wurden, wurde zum Ausdruck gebracht, dass, wenn die Werktätigen dieses Betriebes die Arbeit niederlegen, sich die anderen Betriebe anschließen würden."

Die Volkspolizei schließt das Werk, um eine Demonstration in das Stadtgebiet zu verhindern.

Am Nachmittag tritt die gesamte Belegschaft des Karl-Marx-Werkes in den Streik. Die Telefone in der Stadt funktionieren nicht. Der Zugverkehr von und nach Berlin ist eingestellt. Aufgebracht warten Hunderte Menschen auf dem Potsdamer Bahnhof. Um sie zu beruhigen, schickt die SED-Kreisleitung vierzig "Instrukteure". Die Volkspolizei schätzt, dass sie es schwer haben werden, die Menschenmenge zu beruhigen.

Auch der Kreisvorstand des Demokratischen Frauenbundes Deutschlands (DFD) ist besorgt, weil "überall an den Plätzen Menschen [stehen], die [diskutieren], besonders als die sowjetischen Panzer [durchfahren]". Die DFD-Vorsitzende hält es "für notwendig, unsere Freundinnen zwecks Einholung der Stimmung der Bevölkerung durch die Stadt zu schicken", um darüber berichten zu können.

"Freundin" Streit teilt ihre Beobachtung vom Platz der Nationen (Luisenplatz) mit:
"Ein Provokateur, welcher den Betrunkenen spielte, schimpfte in den unflätigsten Ausdrücken auf die SED. Er sagte: Euch Schweine müsste man alle zusammenschlagen, ihr verdient das gar nicht anders. Den durchfahrenden Panzern schrie er entgegen: Ich verlange Rechenschaft von euch, für alles, was ihr hier gemacht habt! ... Von unserem Büro aus wurde die Volkspolizei angerufen, als ich wieder nach unten ging, war dieser Provokateur bereits verschwunden."

Um 17.00 Uhr verhängt die sowjetische Besatzungsmacht den Ausnahmezustand über das Stadtgebiet.

Gegen 18.30 Uhr verkündet in der Dortustraße ein Lautsprecherwagen den Ausnahmebefehl. Im Nu kommt es zu einem Menschenauflauf. Ein 33-jähriger Fahrkartenverkäufer ruft aus der 200-köpfigen Menge heraus:
"Hört doch mit der Bekanntgabe des Befehls auf! Die Volkspolizei hat sowieso nichts mehr zu sagen, macht, dass ihr fortkommt, eure Zeit ist abgelaufen!"
Ein Stasi-Spitzel beschreibt den Fahrkartenverkäufer:
Größe: ca. 1,75 m
Gestalt: schlank
Haarfarbe: rotblond
Gesicht: länglich
Gesichtsfarbe: blass
Kleidung: ein dunkles Jackett mit grauer Hose (der rechte Ärmel war im Schulterteil stark beschädigt.) Die Person trug abgetragene, weinrote Halbschuhe mit Kreppsohle westlicher Herkunft.

Minuten später treiben Volkspolizisten die Menschen auseinander. Mit aller Kraft wehrt sich der Fahrkartenverkäufer gegen seine Verhaftung. In einen Volkspolizei-LKW gezerrt, ruft er den fliehenden Menschen zu: "Arbeiter, nehmt euch an Berlin ein Beispiel! Macht Schluss und erkämpft euch eure Freiheit!"

Das Bezirksgericht Potsdam verurteilt den Fahrkartenverkäufer am 23.6.1953 zu einer Zuchthausstrafe von vier Jahren.

"In Potsdam", berichtet die SED-Bezirksleitung an das Zentralkomitee der SED, "ist man sich noch nicht darüber im Klaren, dass diese Maßnahmen das Ergebnis der Provokationen sind, die von Westberlin gestartet sind."

18. Juni 1953

Im Karl-Marx-Werk in Potsdam-Babelsberg streiken die Arbeiter weiter. 1.500 Beschäftigte ziehen vor das Gebäude des SED-Büros im Werk und verlangen Rechenschaft - auch über die Verhängung des Ausnahmezustandes. Sprechchöre hallen über das Werksgelände. Die Arbeiter fordern den Sturz der Regierung.

Dann erscheinen Agitatoren der SED-Bezirksparteischule und der Akademie für Staat und Recht, und aus Berlin trifft "der Jugendfreund Erich Honecker", FDJ-Vorsitzender und Mitglied des SED-Politbüros, ein. Volkspolizisten und sowjetische Soldaten besetzen das Werk. Auch der sowjetische Militärkommandant ist gekommen.

Im SED-Bericht heißt es:
"Durch die Anwesenheit Erich Honeckers konnten alle Fragen geklärt werden." Am späten Vormittag teilt der Werkleiter den Arbeitern dann "im Namen des Kommandanten" mit, "dass unverzüglich die Arbeit wieder aufgenommen werden muss".

Im Reichsbahn-Ausbesserungs-Werk (RAW) legen die Beschäftigten der Alten Halle um 7.30 Uhr die Arbeit nieder. Gegen 10.00 Uhr tritt die gesamte Belegschaft in den Streik. Aus Platzgründen versammeln sich die Arbeiter nicht im Speiseraum, sondern auf der Schiebebühne. Ein 38-jähriger Tischler mit einer alten Thälmann-Mütze auf dem Kopf erhält lautstark Beifall für die Streikforderungen:
"Freiheit wollen wir!
Normen herunter!
Freie Wahlen!
Keine Behinderung des Ost-West-Verkehrs!
Warum mischen sich russische Panzer in unsere Angelegenheiten!"

Auf dem Bassinplatz stehen die Busse still, die Busfahrer streiken. Die Staatssicherheit berichtet, dass von "Seiten einiger Provokateure versucht [wird], die Straßenbahn in ihre Hand zu bekommen."

Nachmittags fährt auf dem Bassinplatz Kasernierte Volkspolizei und sowjetisches Militär auf. Rasch suchen die Menschen das Weite.

Wie viele andere "Rädelsführer" nimmt die Staatssicherheit auch den 38-jährigen RAW-Tischler fest und sperrt ihn im Stasi-Untersuchungsgefängnis in der Lindenstraße ein. Während eines Verhörs am 19. Juni erklärt er:

Jawohl, ich habe gesagt: Wir wollen streiken und erklären uns mit den Arbeitern in Berlin solidarisch. Ich habe gesagt: Freiheit wollen wir. Ich will meine Verwandten in Westdeutschland besuchen. Ich forderte freie und geheime Wahlen sowie die Freilassung aller politischen Gefangenen. Ich habe schon in der Nazi-Zeit gesessen, und es macht mir auch jetzt nichts aus, wieder eingesperrt zu werden. Ich habe zu einem Trauermarsch aufgefordert für die Toten in Berlin, um das Blut der gefallenen Arbeiter zu ehren. Ich habe gesagt, wenn man die Kleinen einsperrt, muss man auch die Großen für ihre Fehler einsperren. Ich habe gesagt, dass sich die SED nur auf die sowjetischen Bajonette stützt. Ich war unzufrieden und fühlte mich nicht frei. Ich bestreite entschieden, dass ich in irgendeinem Auftrag gehandelt habe. Der Streik war nicht vorbereitet, sondern spontan.

Am gleichen Tag leitet die Staatssicherheit ein Strafverfahren gegen ihn ein. Der Leiter der Abteilung Arbeit des RAW, der Werkdirektor und der Polit.-Stellvertreter des Betriebsschutzes bezeichnen ihn als "Drahtzieher" und Organisator" des Putsches im Werk. Am 20. Juli 1953 verurteilt ihn das Bezirksgericht Potsdam zu einer Haftstrafe von einem Jahr und 6 Monaten.

[Quellen: BLHA, Rep. 531, Sign. 303; BLHA, Rep. 531, Sign. 380; BLHA, Rep. 404/15, Sign. 33; BStU, Ast. Potsdam, AS 1/53, Bd. III, IV, IX; BStU, Ast. Potsdam, AU 301/53, STA 4360; BLHA, Rep. 530, Sign. 1011; BStU, Ast. Potsdam, AS 1/53, Bd. III; BStU, Ast. Potsdam, AU 330/53, Bd. I; BStU, Ast. Potsdam, AU 312/53, Bd. 1, Bl. 19-21; BStU, Ast. Potsdam, STA 4352, Bl. 60-63.]