Karl-Heinz Benditz, 1953 Stahlwerker im LEW Hennigsdorf, über den Marsch der Hennigsdorfer nach Berlin am 17.6.1953


Abschrift


Karl-Heinz Benditz, Stahlwerker, Hennigsdorf


Der RIAS und Egon Bahr! Von dort erhielten wir die Informationen. Befehle erhielten wir von dort nicht. Die Nachricht von den streikenden Bauarbeitern der Stalinallee erregte ungeheures Aufsehen: Da hatten es also welche gewagt! Die LEW war ein großer Betrieb, von der AEG modern angelegt mit vielen breiten Straßen zwischen den Bürogebäuden und Hallen. Am Morgen des 17. Juni zeigten viele keine Neigung zu arbeiten. Man zog zwar die Arbeitskleidung an, ging aber dann zurück auf die Straßen und diskutierte.
Es hieß später, der Werkzeugbau und das dazugehörige Konstruktionsbüro hätten angefangen. Nach der Wende führte ich ein Gespräch mit Dieter W., der dort beschäftigt war. Es war nicht so eindeutig. Die Straßen waren schon vorher voll Menschen. Vielleicht lag der Effekt daran, dass der Werkzeugbau geschlossen losging. Sie riefen "Aufhören". Wo sie vorbei kamen, schlossen sich die Kollegen an, meist in Arbeitskleidung, denn umgezogen hatten sich die meisten schon. Ich verließ sofort das Büro und schloss mich an, wobei ich in den ersten Reihen marschierte. Nach ganz kurzer Zeit ging der größte Teil der Kollegen mit. Die höheren Partei- und Gewerkschaftsfunktionäre, sonst immer irgendwie gegenwärtig, waren nicht zu sehen, sie waren wie vom Boden verschluckt.
Das galt auch für die höheren staatlichen Leiter. Auch sahen wir es von vornherein als zwecklos an, an sie zu appellieren. So stellte sich bald die Frage, was wir weiter tun sollten. Es war nahe liegend, zum Stahlwerk zu marschieren, um die dortigen Kollegen auch wachzurütteln. Das Stahlwerk war der zweite große Betrieb in Hennigsdorf mit annähernd gleicher Belegschaftsstärke. Es war ursprünglich von der AEG angelegt worden, um den in Berlin reichlich anfallenden Stahlschrott zu neuem Stahl zu verarbeiten. 1953 war es natürlich auch ein VEB Betrieb. Erst als der größte Teil der Demonstranten das Werk bereits verlassen hatte, erwachte die Betriebsgewerkschaftsleitung aus ihrer Lethargie und gedachte der von Lenin zugewiesenen Rolle der Gewerkschaften als Treibriemen der Partei. Sie verbreitete über den Werkfunk nun ununterbrochen Aufrufe, sich nicht an den "verbotenen" Demonstrationen zu beteiligen. Auch der Werkleiter ließ sich dementsprechend hören. Viele ließen sich dadurch noch abhalten mitzumachen. Aus meinem Büro war ich der Einzige, der teilnahm. Viele Abteilungen aber waren vollzählig mit ihren Leitern beteiligt. Ich schätze, dass etwa 75 % aller Beschäftigten mitgingen. Keineswegs demonstrierten nur Arbeiter. Ich habe mich von Anfang an darüber gefreut, dass nicht nur die unmittelbar betroffenen Arbeiter mitmachten, sondern auch etwa die gleiche Anzahl Angestellte aus Solidarität mit den Kollegen.
Der Zug bewegte sich auf der Neuendorfstraße in Richtung Hauptstraße. In dem Gebäude gegenüber dem LEW-Feuerwehrdepot befand sich die Kommandantur der örtlichen Grenzschutzkräfte. Wir sahen einige Offiziere mit steinernen Gesichtern hinter den Fenstern stehen und riefen: "Spitzbart, Bauch und Brille, sind nicht des Volkes Wille."
Ich kann nicht sagen, woher dieser Slogan kam. Mir war er nicht bekannt gewesen. Hatte ihn jemand von uns spontan erfunden oder haben ihn die Bauarbeiter der Stalinallee am Vortag schon gerufen? Die Kollegen in den ersten Reihen des Demonstrationszuges waren mir zum größten Teil bekannt. Einer davon stimmte den Ruf an. Eine Führungsrolle oder die Rolle eines Dirigenten hatte keiner inne.
Kurz darauf, an der Eisenbahnbrücke, kam es zur ersten Bewährungsprobe. Seitlich aus der Bötzowstraße kamen zwei Grenzer, bewaffnet, auf Fahrrädern angerast. Unversehens standen sie mitten im Demonstrationszug! Es waren junge Leute, und sie waren kreidebleich. Die Situation war brenzlig. Da aber ergriff ein älterer Kollege, ein Arbeiter, das Wort. Ich kannte ihn, habe aber leider seinen Namen vergessen. "Kollegen", sagte er, "wir sind besser als die. Lasst sie fahren." Wir waren erleichtert und schoben sie an.
Wie ich später erfahren habe, waren sie geschickt worden, die Grenzposten zu informieren. Vielleicht war es unser Glück, dass wir sie ziehen ließen. Als wir später die Grenze tatsächlich durchbrachen, war kein Posten zu sehen. Egal, ob das stimmt oder nicht: Wir hatten die erste Bewährungsprobe bestanden!
Zunächst aber dachten wir noch nicht daran, zur Grenze zu gehen, denn wir wollten ja zum Stahlwerk. Als wir uns der Kreuzung an der evangelischen Kirche näherten, geschah ein Wunder: Die Stahlwerker kamen uns entgegen! Nie im Leben werde ich die Freude und den Jubel vergessen, der in dieser Situation ausbrach.
Der synchrone Ablauf, das Zusammentreffen genau an der Ausfallstraße nach Berlin sind es, die später die SED immer wieder als Beweis für eine zentrale Leitung des Aufstandes in Hennigsdorf angesehen hat. Viele Gespräche mit den Beteiligten habe ich in den vergangenen 50 Jahren geführt, auch nach der Wende. Niemand wusste etwas von einer bewussten Führung. Auch von den nachfolgenden Strafprozessen gegen Beteiligte ist mir nicht bekannt geworden, dass die direkte Leitung der Demonstranten bestraft wurde. Auch im Westen, wo man heute wahrlich keine Sympathien mehr für uns hat, wurde nie seriös versucht, die direkte Organisierung der Abläufe in Hennigsdorf zu belegen.
Während wir noch immer im Begeisterungstaumel waren, ergab sich wieder die Frage, was weiter zu tun sei. Die Entscheidung wurde in der Spitzengruppe des nunmehr vereinigten Demonstrationszuges getroffen, alle anderen folgten. Nach kurzer Diskussion wurde beschlossen, nach Berlin zu gehen und zwar zum Haus der Ministerien. Die Zielsetzung änderte sich: Es sollte nicht nur die Rücknahme der Normenerhöhung gefordert werden, sondern wir wollten jetzt, dass die ganze Bande abtritt! Innerhalb weniger Minuten erwuchs der Wille, die Einheit Deutschlands wieder herzustellen!
Ganz einfach war der Marsch nicht, denn fast alle waren ja in Arbeitskleidung, die Stahlwerker meist mit Holzpantinen an den Füßen. Auch begann es zu regnen. Aber die Begeisterung ließ uns alle Schwierigkeiten vergessen, und wir marschierten los.
Wenige Meter später mussten wir die zweite Bewährungsprobe bestehen. Noch vor der Havelbrücke stellten sich uns drei oder vier Funktionäre aus dem Stahlwerk gestikulierend in den Weg. Wieder drohte die Situation zu eskalieren. Einige Schmelzer liefen ihnen drohend entgegen. Von Furcht gepackt, versuchten die Funktionäre seitlich zu entkommen. Damals befanden sich aber beiderseits der Auffahrt zur Brücke (noch Notbrücke) sumpfige Wiesen, sie kamen deswegen nicht weit. Die Demonstranten scheuten sich nicht, nasse Füße zu bekommen und erreichten sie bald. Nach einigem Gebrüll aber siegte auch hier die Vernunft. Sie bekamen keine Prügel. Einer dieser Funktionäre, wohl der Ranghöchste, musste mit marschieren. Zwei Stahlwerker nahmen ihn in die Mitte und hielten ihn an den Armen fest. Ich sah sie so noch am Potsdamer Platz, als die Demonstration bereits in ihrer Endphase war. Sicherlich, das war Freiheitsberaubung. Ich weiß nicht, was aus den beiden Stahlwerkern geworden ist, ob sie es gewagt haben, zurückzukehren. Dem Funktionär aber ist offensichtlich kein größeres Leid geschehen, mir ist jedenfalls nichts bekannt geworden.
Die Grenze war damals noch nicht so befestigt wie nach 1961, aber es gab Zaun- und Strauchhindernisse. Alle Wege waren bereits mit massiven Sperren versehen und ein Streifendienst fand rund um die Uhr statt. Ein dicker Baumstamm sperrte die Straße nach Heiligensee.
Grenzer waren nicht zu sehen. Als hundert Mann anfassten, war der sperrende Baumstamm in wenigen Minuten beseitigt. Zwischen Heiligensee und Schulzendorf kamen uns mindestens 10 Mannschaftswagen der Westberliner Polizei entgegen. Die Polizisten sperrten die Straße. Sie wollten uns als Angehörige einer nicht genehmigten Demonstration nicht weitergehen lassen. Wir forderten den freien Durchgang und versicherten, in Westberlin keinen Schaden anrichten zu wollen. Unsererseits wurde von vielen aus der Spitzengruppe des Demonstrationszuges heraus gesprochen, von der Polizei sprach nur ein einzelner Offizier. Nach Rückfragen beim Senat ließ er uns ziehen. Ab Tegel regelte die Westberliner Polizei den Verkehr, quer durch den Demonstrationszug hindurch. Das war gut für den Verkehr in Westberlin, aber schlecht für uns, denn es gab endlose Verzögerungen. Immer wieder wurde der Zug zerrissen. Nach meiner Schätzung haben wir beim Durchmarsch durch Westberlin mindestens zwei Stunden verloren. Diese Zeit gewann die DDR-Regierung und nutzte sie, um Gegenmaßnahmen einzuleiten.
Der Weg war weit, es regnete immer noch und das dauernde Anhalten erschöpfte uns. Aber die Leute in der Müllerstraße waren freundlich zu uns, besonders die Bäcker und Fleischer: Sie gaben uns zu essen und zu trinken. Wie gut schmeckt in solcher Lage ein trockenes Brötchen und eine Brause!
Der Einmarsch in Ostberlin auf der Chausseestraße erfolgte ungehindert, Volkspolizei war nirgends zu sehen. Die Spitze musste etwas warten, damit der Zug wieder aufschließen konnte. Wir brachen das Grenzschild ab ("Hier beginnt der demokratische Sektor") und führten es bis zum Potsdamer Platz als Transparent mit uns. Ich betrat ein Haus und übersah den Zug aus gewisser Höhe: Er war beeindruckend, scheinbar endlos lang. Meine Hoffnungen waren groß! Vielleicht war hier der Höhepunkt unserer Demonstration gewesen. Meine Begeisterung ließ nicht zu, dass ich unsere wahre Lage erkannte: Wir waren eine Schlange ohne Kopf! Wir hatten keine klaren Formulierungen der Forderungen, die wir stellen wollten. Während des ganzen Marsches war in der Spitzengruppe des Zuges nicht darüber gesprochen worden, was zu tun sei, wenn wir unser Ziel, das Haus der Ministerien, erreicht hatten.
Beim Passieren des Walter-Ulbricht-Stadions stürmten die jungen Kollegen das Tor, kletterten auf das Dach, brachen die Buchstaben des Schriftzuges ab und warfen sie auf die Straße. Als man daran ging, die roten Fahnen, die am Stadion gehisst waren, zu zerfetzen, protestierten ältere Kollegen: Solange ich es überblicken konnte, wurden darauf die Fahnen nicht mehr angefasst. Die ersten Bewaffneten tauchten auf, als wir die Straße Unter den Linden überqueren wollten.
Am Straßenrand standen dicht an dicht LKW mit Sowjetsoldaten. Ihr Gesichtsausdruck zeigte, dass sie verwirrt waren. Man konnte zwischen den LKW einzeln hindurchgehen. Der Zug fächerte sich dementsprechend auf und schloss sich danach wieder. Jedoch nicht alle wagten es, zwischen den mit laufendem Motor dastehenden Wagen hindurch zu gehen. Nach meiner Schätzung ließ sich etwa 1/3 der Demonstranten aus Hennigsdorf abdrängen. Sie gingen weiter zum Alexanderplatz, wo viele Berliner in Protesthaltung verharrten.
In der südlichen Friedrichstraße veränderte der Zug seine Zusammensetzung. Tausende Berliner schlossen sich an. Der Verlust durch das Abdrängen an der Straße Unter den Linden wurde mehr als ausgeglichen, aber es war eigentlich keine Hennigsdorfer Demonstration mehr. Am Haus der Ministerien zeigte sich schnell, dass alles zu spät war. Volkspolizei hatte einen undurchdringlichen mehrgliedrigen Kordon gebildet. Sie hielten sich untergefasst und waren flexibel: Schnell konnten sie sich loslassen und von den Gummiknüppeln Gebrauch machen. Wir versuchten es mehrmals mit massivem Drängen. Jetzt wandten sie eine andere Taktik an: Sie öffneten kurzfristig ein Glied und schwupp - befanden sich einzelne Demonstranten innerhalb des Ringes und wurden von herbeieilenden Volkspolizisten verhaftet. (...)
Es ist mir heute nicht mehr möglich, genau anzugeben, wo ich damals überall gestanden habe. Vor dem Haus der Ministerien änderte sich nachmittags am 17. Juni die Situation rasch, denn nun kamen die sowjetischen Panzer. Um nicht überrollt zu werden, mussten wir in die umliegenden Ruinen flüchten. Wir gaben aber nicht gleich auf, sondern bewarfen die Panzer mit Steinen. Sie klapperten wie Sparbüchsen, wenn man das Kleingeld darin schüttelt. Wenn es den Panzerkommandanten zuviel war, schossen sie eine Garbe aus einer Maschinenwaffe. Wir warfen uns hin und flüchteten. Danach kehrten wir zurück und das Spiel begann aufs Neue.
Es wurde an diesem Tage sehr viel geschossen, in der Nähe des Hauses der Ministerien und auch am Potsdamer Platz. In meiner Gegenwart aber wurde niemand getroffen. Offensichtlich zielte man nicht direkt auf Menschen, sondern schoss in die Wände der Häuserruinen. Das behielt man auch bei, als die Demonstranten noch einen Schritt aggressiver wurden: Jeder Panzer hatte eine lange, peitschenförmige Antenne. Einzelne Mutige, wohl ehemalige deutsche Soldaten, sprangen auf den Panzer und brachen die Antenne ab. Das geschah mehrfach, der betroffene Panzer rollte darauf sofort in den Hintergrund zurück und wurde durch einen neuen ersetzt. Auch bei diesen Aktionen, die ich mehrfach aus großer Nähe beobachten konnte, gab es weder Tote noch Verletzte.
Nach einiger Zeit wurde den Demonstranten die Vergeblichkeit aller Bemühungen bewusst. Die Szene beruhigte sich. Einzelne Panzerkommandanten ließen sich ansprechen. Stalin war gerade gestorben und die Russen sagten uns, wir sollten uns beruhigen, jetzt werde alles besser. Wir glaubten es nicht.
Als es Abend wurde, war die Stimmung auf einen Tiefpunkt gesunken. Die Demonstranten zogen sich nach Westberlin zurück. Dort hatte man private LKW organisiert. Wir konnten auf die Ladefläche steigen und wurden zurück an die Grenze bei Heiligensee gefahren. Diese sah jetzt ganz anders aus. Dicht an dicht stand dort schwer bewaffnete Volkspolizei. Wir mussten durch eine enge Gasse gehen und wurden registriert.


[Quelle: Peter Lange/Sabine Roß (Hg.), 17. Juni 1953 - Zeitzeugen berichten. Protokoll eines Aufstands, unter Mitarbeit von Barbara Schmidt-Mattern im Auftrag der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur und des Deutschlandfunk, Münster 2004, S. 124-129.]