H. Schwachenwalde
Die Ereignisse am 17. Juni 1953 in Calbe


Nachdem am Abend des 16. Juni über westliche Rundfunksender von den Protesten und Demonstrationen in Berlin berichtet wurde, steigerte sich auch in Calbe der Unmut über die Normerhöhungen und andere Maßnahmen, die allgemein als Bedrückung empfunden werden. Schon in den frühen Morgenstunden des 17. Juni berichteten der RIAS ("Rundfunk im amerikanischen Sektor" Berlins) und der Westdeutsche Rundfunk von dem sich in Berlin ausbreitenden Generalstreik. Gespannt war die Lage daraufhin auch in Calbe, und bald formierte sich im Eisenwerk ein Protestzug mit mehreren hundert Demonstranten. Der Zug bewegte sich durch die Barbyer Straße in Richtung Innenstadt. In Sprechchören wurde gerufen "Nieder mit den Normen", "Weg mit dem Spitzbart", "Weg mit den Bonzen" und anderes. Etliche Eisenwerker hatten sich das Gesicht schwarz geschmiert, um nicht von Spitzeln erkannt zu werden. Dem Zuge schlossen sich etliche andere Arbeiter und Anwohner der Barbyer Straße an. Unterwegs wurden Bilder von SED-Größen, Transparente mit Parteilosungen usw. beseitigt und zerrissen.

Vor der Post teilte sich der Zug. Der eine Teil der Demonstranten besetzte das Rathaus. Auch dort wurden Parolen und Losungen beseitigt. Zwischenfälle hat es im Rathaus nicht gegeben. Schon vor Eintreffen der Demonstranten hatte sich der Bürgermeister Otto Bergholz (SED) verdrückt und sich am Wartenberg in einem Kornfeld versteckt.

Der andere Demonstrationszug marschierte durch die Loewestraße in Richtung Polizeirevier, das damals in Räumen des ehemaligen Hotels (Zum Schwarzen Adler) untergebracht war. Ohne Gegenwehr ließen sich die anwesenden "Volkspolizisten" entwaffnen. Die Räume wurden nach Unterlagen über Calbenser Bürger durchsucht. Dabei steigerte sich der Unmut und man warf Mengen von Akten auf die Straße, wo sie dann von Jugendlichen angesteckt und verbrannt wurden.

Ein Teil der Demonstranten zog dann in Richtung Saalebrücke, wo am "Bürgergarten" in zwei Baracken ein Kommando der Transportpolizei untergebracht war. Auch dort wurden die anwesenden Polizisten entwaffnet. Etliche Gewehre wurden in die Saale geworfen. Die Entwaffnung der Volkspolizei in Calbe war eine Vorsichtsmaßnahme, um zu verhindern, daß diese eventuell auf Demonstranten schießen würden.

Im Laufe des Nachmittags verliefen sich die Demonstranten. Auf dem Markt und in den Hauptstraßen wurde noch lange in Gruppen zusammengestanden und debattiert. Man nahm sich Zeit, denn in den meisten Betrieben wurde nicht gearbeitet. Problematisch war die Lage im Eisenwerk, wo die Öfen nicht ausgehen durften. Sonst wäre dort großer Schaden entstanden. Verantwortungsbewußte Männer unter der Leitung des stellvertretenden Ofenchefs Werner Claus sorgten dafür, daß die Roheisengewinnung aus Sicherheitsgründen angehalten wurde. Man rechnete damit, daß die Stromversorgung eventuell ausfallen würde. Nach acht Stunden lief die Produktion mit Beginn der nächsten Schicht wieder an. In der Papierfabrik hatte eine Gruppe von Beschäftigten schon in der Zeit vor dem l7. Juni mit Vehemenz gegen die Politik der DDR-Regierung polemisiert. Harte Kritik wurde wegen der ständigen Versorgungsmängel, der schlechten Arbeits- und Lebensbedingungen und der 10-prozentigen Lohnminderungen ausgesprochen. Mit Beschimpfungen und Vorwürfen gegenüber Parteisekretären machten sie ihrem Unmut Luft. Dabei führten sie Vergleiche mit den besseren Lebensverhältnissen in Westdeutschland mit ins Feld. Als Folge dieser "staatsfeindlichen Tätigkeit" wurden mehrere Beschäftigte der Papierfabrik verhaftet und für Jahre eingesperrt, darunter ein Herr Berger, von dem seit seiner Verhaftung niemand mehr etwas gehört hat. Irgendwann später wurde erzählt, daß die Betroffenen mit dem westdeutschen Geheimdienst zusammengearbeitet hätten.

Am späten Nachmittag des 17. Juni 1953 leerten sich die Straßen der Stadt. Jeder verzog sich nach Hause und wartete dort auf die nächsten Nachrichten der westlichen Rundfunksender, die eine wesentlich bessere Berichterstattung boten als der Ostberliner Rundfunk, der nur "parteiliche" Meldungen durchgab. So wußte man dann schon am Abend des 17. Juni, daß die Sowjetarmee in Berlin mit militärischer Gewalt (Panzer wurden aufgefahren und es wurden nicht nur Warnschüsse abgegeben!) eingegriffen hatte und "Ruhe und Ordnung" wiederherstellte. Damit war auch hier jedem klar geworden, daß Walter Ulbricht und seine SED-"Regierung" nicht zurücktreten würde.

Immerhin empfanden es alle als eine Genugtuung, daß Hunderttausende von Demonstranten gezeigt hatten, daß sie mit der Politik der SED und der "Regierung" nicht einverstanden waren.

Gegen 21.00 Uhr durchfuhren sowjetische Panzerfahrzeuge unsere Stadt, für jeden Calbenser war da endgültig klar, daß der Volksaufstand niedergeschlagen war!


[Quelle: Bericht von Hanns Schwachenwalde, enthalten in: Landesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen in Sachsen-Anhalt, Materialerhebung zum 17. Juni 1953, Magdeburg 2002]