Horst Linowski
Der 17. Juni 1953, ein schwarzer Tag, auch in meinem Leben
Bericht über den 17. Juni 1953 in Magdeburg


[Horst Linowski, Jahrgang 1933, 1953 von einem sowjetischen Militärtribunal wegen seiner Teilnahme am Juni-Aufstand zu acht Jahren Arbeitslager verurteilt, im November 1960 per "Gnadenerlaß" des Staatsrates der DDR sechs Monate und sechzehn Tage vor dem Ablauf der zu verbüßenden Gesamtstrafe entlassen. Er wurde am 4. Januar 1996 von Rußland rehabilitiert und in Deutschland gemäß HHG und 1. SED-UnBerG entschädigt. Horst Linowski ist Kreisvorsitzender des Bundes der Stalinistsch Verfolgten (BSV) und lebt in Magdeburg.]

Am 17. Juni 1953 begann ich um 6.00 Uhr im SAG-Betrieb (Sowjetische Aktiengesellschaft) "Ernst Thälmann", vormals Krupp-Gruson-Werk, später SKET, in Magdeburg-Buckau meinen Arbeitstag als Kranführer. Am Abend zuvor hatten wir schon über Rundfunk vom Streik der Bauarbeiter in Berlin erfahren. Gegen 7.00 Uhr legte unser Betriebsteil die Arbeit nieder, und wir versammelten uns vor dem Werkstor. Dann kamen auch Arbeiter aus anderen Betriebsteilen. Plötzlich hieß es, wir ziehen von Betrieb zu Betrieb in der ganzen Stadt und fordern alle auf, ebenfalls die Arbeit niederzulegen. So marschierten wir zu den umliegenden Betrieben und von dort in die Innenstadt, über den Hasselbachplatz in Richtung Krökentor. In meiner alten Berufsschule für Metallgewerbler und in der Ingenieurschule für Elektrotechnik "Am Krökentor" forderte ich die Schüler und Studenten auf, sich mit am Streik der Arbeiter zu beteiligen. Als dann die Arbeiter aus Richtung Neue Neustadt und Rothensee kamen, wurde der Weg zurück über die Otto-von-Guericke-Straße zum Gefängnis in Sudenburg eingeschlagen.

Dort wurde die Freilassung der politischen Häftlinge gefordert. Als die Panzer der sowjetischen Armee um ca. 13.00 Uhr auf der Einmündung Halberstädter/Leipziger Straße erschienen und die Soldaten mit einem Steinhagel empfangen wurden, so daß sie ihre Köpfe wieder in ihre Panzer zurückzogen, wurde es sehr ernst. Die ersten Maschinengewehrsalven peitschten über die Streikenden. Nach mehreren Versuchen, mit den Soldaten ins Gespräch zu kommen, beruhigte sich die Lage etwas. Doch die Panzer, die in einer wogenden Menschenmenge eingeschlossen waren, bewegten sich unaufhaltsam und trieben die Streikenden aus der Umgebung des Gerichtsgebäudes und Gefängnisses fort. Mehrere Kameras hielten das Geschehen in Bildern fest. Vermutlich waren in der Menschenmenge auch Leute von der Stasi.

Mein Arbeitskollege hatte mich bis dahin begleitet. Plötzlich war er nicht mehr da.

Gegen 14.00 Uhr ging ich wieder zu meiner Arbeitsstelle. Nachdem ich mich umgezogen hatte, ergab sich eine Mitfahrgelegenheit, und gegen 16.00 Uhr war ich zu Hause. Es war 19.30 Uhr, als meine Mutter mich zurückzuhalten versuchte, aber ich wollte mir noch das große Aufgebot der Panzergeschütze und Soldaten in unseren Grünanlagen ansehen. Weil ich kaum noch laufen konnte, nahm ich meines Bruders Fahrrad. 10 Minuten später wurde ich festgenommen.

Der Grund für meine Verhaftung war, daß ich ein Flugblatt mit dem Befehl über den Beginn des Ausnahmezustandes in Deutschland zerrissen hatte. Herausgeber war die sowjetische Militärverwaltung in Deutschland.

Dieses Zerreißen war meinerseits eine impulsive Handlung und gleichzeitig die Erkenntnis der Ohnmacht gegenüber der sowjetischen Besatzung. Diese hatten mit Panzern, Geschützen und ihren Soldaten den spontanen Streik und die weitergehenden Forderungen nach freien Wahlen und der Wiedervereinigung des geteilten Deutschlands zunichte gemacht.

Nachdem ich das Flugblatt zerrissen hatte, wurde ich von einem der sowjetischen Soldaten aufgefordert, mitzukommen. Während ich mein Fahrrad etwas nach vorne schob, um abzusteigen, ertönte ein Schuß in unmittelbarer Nähe meines Kopfes. Mein Kopf dröhnte, ich ließ das Fahrrad fallen und lief ca. zwei Schritte. Da bekam ich auch schon den Gewehrkolben in den Rücken gestoßen. Der Soldat übergab mich einem herbeigeeilten Offizier. Nach längerer Beratung der in der Encke-Kaserne anwesenden Offiziere wurde ich zu Dienststellen in der Stadt auf einem offenen LKW gefahren. Die einzelnen Anlaufstellen der Reihe nach waren: Kommandantur Gerhart-Hauptmann-Straße (Postscheckamt), Kaserne Herrenkrugstraße, dann zum Haus der Offiziere in der Hegelstraße, von dort in die Humboldtstraße. Doch keiner wollte mich haben oder es war überfüllt. Gegen 22.30 Uhr wurde ich dann im Polizeipräsidium (Halberstädter Straße) der Deutschen Volkspolizei übergeben. Mein Fahrrad mußte ich im Gang abstellen und wurde in die vierte Etage gebracht. Dort wartete ich mit ca. 20 anderen Männern. Gegen 24 Uhr erschien ein Polizeioffizier, rief mich auf und brachte mich dann über den Hof in die U-Haftanstalt. Dort angekommen, wurde mir von einem Offizier eine falsche Richtung, in die ich gehen sollte, angegeben. Als ich losging wurde mir der rechte Arm nach hinten gerissen und ich fiel auf die Nase. Nasenbeinbruch war die Folge, eine ärztliche Versorgung gab es nicht. Anschließend wurde ich wieder an einen sowjetischen Offizier übergeben. Dieser war während der darauffolgenden Tage und Nächte mein Untersuchungsrichter. In Tag- und Nachtverhören sollte ich nun im einzelnen meinen Tagesablauf schildern. Ständig wurde mir mit der Todesstrafe gedroht. In der Zeitung, die mir vorgehalten wurde, waren schon vollstreckte standrechtliche Erschießungen gemeldet worden. Von einem Alfred Dartsch und einem Herbert Strauch war dort geschrieben, daß sie am 18. Juni 1953 erschossen wurden.

Meine aktive Teilnahme am Streik, die Anwesenheit beim Gerichtsgebäude und Gefängnis in Sudenburg wurden mir an Hand eines Fotos zur Last gelegt, außerdem der angebliche Fluchtversuch, der erst mit einem Warnschuß gestoppt worden wäre.

Bis zum 24. Juni war ich in der U-Haftanstalt der Stasi. Gegen 10.00 Uhr wurde ich mit weiteren zwei Häftlingen quer durch die Stadt gefahren, so daß wir die Orientierung verloren. Dadurch, daß ein mitfahrender sowjetischer Soldat kurz vor dem Ziel aus dem sonst verhängten Fenster sah, wußten wir, wo wir waren. Es war die sowjetische Hauptzentrale "Klausener Straße 19" in Magdeburg. Dort wurden wir in einen Kellerraum gebracht. Bereits eine Stunde später wurden unsere Köpfe kahlgeschoren. Dann wurden wir nachts mehrmals zum sogenannten Abschluß der Voruntersuchungsprotokolle geholt.

Vom Untersuchungsrichter wurde ich während der Verhöre mehrmals getreten und geschlagen. Herzmassage nannte er das Schlagen mit der flachen Hand auf die Herzgegend. Mehrmals wurden mir auch von ihm Zigaretten auf dem Unterarm ausgedrückt, um die Unterschriften auf die Protokolle zu bekommen. Als ich mich bei einem anderen Offizier beschwerte, lächelte dieser nur und sagte: "Das sagt jeder Häftling." Später mußte ich unterschreiben, daß mir nichts getan worden wäre.

Am 4. Juli wurden wir nacheinander von einem sowjetischen Militärtribunal (SMT) verurteilt. Entgegen der üblichen Methoden war mein Arbeitskollege, der am 17. Juni plötzlich verschwunden war, als Zeuge der Anklage in der Verhandlung erschienen. Dort sagte er aus, ich hätte an dem Niederreißen von Plakaten und einer Fahne teilgenommen. Auf die Frage, wo er das Zeugengeld bekomme, antwortete der Militärrichter: "Von seiner deutschen Dienststelle." Ich wurde zu acht Jahren Arbeitslager verurteilt.

Drei Tage später waren wir unterwegs nach Potsdam in das dortige Militärgefängnis. Dieses befand sich in dem Kasernenkomplex "Maikäferkaserne" Potsdam. Dort waren ebenfalls Deutsche, die wegen des 17. Juni 1953 vom SMT verurteilt worden waren.

Am 3. August wurden wir früh am Morgen in einen LKW verfrachtet und in einer mehrere Stunden dauernden Fahrt nach Bautzen gebracht. Zunächst waren wir froh, in Deutschland geblieben und nicht in ein Arbeitslager nach Sibirien verschleppt worden zu sein. Wir ahnten aber noch nicht, was auf uns zukam.

Die Gefängniskleidung war mit roten Arm- und Beinringen versehen. Damit auch alle anderen Häftlinge erfuhren, welch schwere Verbrecher wir waren, hatten wir, von sowjetischen Militärtribunalen Verurteilte, zusätzlich noch ein großes, gelbes "X" auf dem Rücken. Insgesamt waren wir 25 "Xer". Wir kamen aus Magdeburg, Barby, Dessau, Leipzig, Görlitz und Jena.

Streng abgeschirmt und bewacht brachten wir die ersten Wochen auf West I zu. Dann erfolgte die Verlegung nach West II. Als Anfang 1955 einige Mithäftlinge nach Berlin zum Arbeitseinsatz verlegt wurden, gab es auch für die übriggebliebenen "Xer" einige Erleichterungen. Die "Xer"-Kleidung entfiel und wir wurden Tütenkleber. Dieses Tütenkleben brachte uns allen 21 Tage verschärften Arrest ein. "Diebstahl am Volkseigentum" wurde das Verbrauchen von unverwertbarem, beklebtem Pergamentpapier genannt.

Im Mai 1955 kam ich in das Kommando Cunewalde, Betrieb III, wo ich bis September 1960 arbeitete. Dort hatte ich zwei Arbeitsunfälle: Schnittverletzung am linken Zeigefinger und dann noch von einer umstürzenden Schwungscheibe einen Mittelfußknochenbruch am linken Bein.

Am 29. November 1960 wurde ich durch einen Gnadenerlaß des Staatsrates vor dem Ablauf meiner zu verbüßenden Strafe entlassen. Genau 6 Monate und 16 Tage früher!

Zwei Wochen nach der Haftentlassung, Ende November 1960, nahm ich die mir zugewiesene Arbeitsstelle als Fräser in einer Werkzeugmaschinenfabrik in Magdeburg auf. Jedoch die Arbeitsbedingungen, wie Dreischichtsystem und Mehrfachbedienung von Maschinen, waren nicht für einen Schwerbehinderten geeignet. Zudem kam noch, daß mir die neuen Arbeitskollegen meine Haft vorhielten. Demzufolge hätte ich in einem sozialistischen Betrieb nichts zu suchen. Im Januar 1961 wechselte ich in einen Privatbetrieb. Dort stimmte das Arbeitsklima und die Arbeitsbedingungen waren besser.

Bereits kurz nach meiner Haftentlassung wurde ich von einem Orthopäden untersucht. Die mangelhafte orthopädische Grundversorgung in der Haftanstalt Bautzen hatte dazu geführt, daß sich der bei früheren Operationen erreichte Operationserfolg verschlechtert hatte. Eine erneute Operation mit anschließender neunmonatiger Arbeitsunfähigkeit war erforderlich. Ebenfalls als Folge der Haft bekam ich starke Kopfschmerzen. Ich mußte mehrere Monate in stationäre Behandlung und durfte danach nur noch leichtere, schlecht bezahlte Tätigkeiten ausüben.

Mein Entlassungsschein wurde von der VP-Reisepaßstelle Magdeburg eingezogen, als ich eine Reise zur Beerdigung meines Patenonkels in Westdeutschland beantragte.



[Quelle: Landesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen in Sachsen-Anhalt (Hg.), Ein Gespenst ging um - Erlebnisberichte aus dem 'sozialistischen Lager' 1945 bis 1989. Reihe "Betroffene erinnern sich" Nr. 2, Magdeburg 1996.]