Ernst Laue

Schicksalstage im Juni 1953. Bericht eines Zeit- und Augenzeugens aus Staßfurt.

Ein Rückblick


Im Juli 1952 hatte die Sozialistische Einheitspartei Deutschland (SED) unter ihrem Vorsitzenden Walter Ulbricht den "planmäßigen Aufbau des Sozialismus" verkündet. Die Funktionäre des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB) solidarisierten sich mit dem Beschluss. In der Zeit von Juli bis Dezember 1952 ließen sich in den westlichen Notaufnahmelagern 101.167 Menschen, die die DDR verlassen hatten, registrieren, darunter auch Staßfurter. Am 5. März 1953 starb in Moskau "der weise Führer" J. W. Stalin. Sein Tod erschütterte auch die DDR. Die SED-Führung geriet zunehmend in eine schwierige Lage. Bis Ende März verließen weitere 112.614 Menschen, darunter viele Arbeitskräfte die DDR. Eine weitverbreitete Unruhe erfasste das Land. Im April erfolgte eine drastische Preiserhöhung, die auch die bewirtschafteten Grundnahrungsmittel betraf. In der Industrie, in der Bau- und Landwirtschaft taten sich infolge fehlender wichtiger Materialien immer mehr Engpässe auf. Am 14. Mai "empfahl" das Zentralkomitee der SED (ZK) eine Erhöhung aller Arbeitsnormen (Sollerhöhung für die Arbeitsleistung) um mindestens 10 Prozent, die bis zum 30. Juni administrativ durchgesetzt werden sollte.

Auf Geheiß des Kremls startete am 9. Juni das Politbüro den "Neuen Kurs". Er war als Reformkurs gedacht, blieb aber ein zeitliches Intermezzo. Die SED gestand Fehler ein, Korrekturen an Mittelstands- und Kirchenpolitik sollten folgen, Rechtssicherheit wurde zugesagt. Preiserhöhungen, der Fortfall von Arbeiterwochenfahrkarten und die Abschaffung von Reisespesen sollten zurückgenommen werden. Ein klares Wort über die Zurücknahme der administrativ erzwungenen "freiwilligen" Normerhöhung fand sich darin nicht. Noch am 16. Juni berichtete die Gewerkschaftszeitung "Tribüne", dass die Beschlüsse über die Erhöhung der Normen "im vollen Umfang richtig" seien, aufrechterhalten bleiben "und mit aller Kraft durchgeführt" werden müssen. Das aber löste die Erhebung aus!

Wenig oder gar nicht bekannt waren wegen Lohnminderung schon vorausgegangene Sitzstreiks und Arbeitsniederlegungen in Berlin-Friedrichshain, Brandenburg, Eisleben, Finsterwalde und Karl-Marx-Stadt. Bei der ABUS in Nordhausen wussten die Arbeiter bereits, wo sie ihre Funktionäre, die keinen Mangel litten, aufhängen würden. Unmut und Aufbegehren hatte auch die Arbeiterschaft, die alle zwangsläufig Mitglieder im FDGB waren, im VEB Maschinen- und Apparatebau, vormals NAGEMA, später dann als CAS bekannt, erfasst. Kontinuierliches Arbeiten wurde erheblich durch fehlende Halbzeuge und Betriebsmittel erschwert. Zulieferteile trafen nicht fristgerecht ein. Besonders die von Berlin zentral gesteuerte spezielle Fertigung von Getriebeteilen, hinkte den Terminen hinterher. Liefertermine mussten korrigiert werden. Das Ergebnis einer Planerfüllung wurde zur Mogelpackung. Nur um die absurden von der Partei geforderten "freiwilligen" Verpflichtungen als erfüllt melden zu können, damit die Funktionäre und Aktivisten ihre Quartalsprämie nicht verloren. Ein mörderischer Termindruck lastete auf jeden, der in der Produktion arbeitete, denn jeder Fertigungstermin wurde zum Politikum erhoben. Exakt geplante Konstruktionen und Fertigungsabläufe verkamen zu Improvisationen. In dieser weitverbreiteten Mangellage, konnten auch die allgegenwärtigen Parolen, mit der Forderung immer schneller und effektiver zu arbeiten, den Sozialismus nicht herbeizaubern.

Am Morgen des 17. Juni 1953, einem Mittwoch, lief die Arbeit im Werk an der Atzendorfer Straße ganz normal an. Ich begab mich sofort mit einem LKW nebst Fahrer nach Raguhn und Roßlau. Wir kannten uns und tauschten die am Vortag erfahrenen Nachrichten über den Streik von Bauarbeitern in der Berliner Stalinallee aus. Die Nachrichten vom Rundfunk im amerikanischen Sektor (RIAS) in Berlin und die vom Rundfunk der DDR verbreiteten stimmten natürlich nicht überein. So versuchten wir, die uns bewegenden Nachrichten zu deuten, wie es wohl weiter gehen oder enden wird.

In Raguhn, im VEB Tewa-Werk, traf ich auf einen recht nervösen Betriebsleiter, der mich mit Fragen über die Anfahrt überschüttete. Doch ich konnte ihm nichts Auffälliges berichten. Statt über Materiallieferungen und Termine zu verhandeln, drehte sich das Gespräch um die Nachrichten und aufkommende Gerüchte.

Als wir in der Fertigungshalle zwecks Begutachtung der fertigen Lochbleche für Siebe und Filter ankamen, fielen nacheinander die Antriebe der Stanzen, Scheren und Pressen, aus. Der Betriebsleiter vermutete zunächst einen allgemeinen Stromausfall und wollte es nicht wahrhaben, dass die Arbeiter die Maschinen abgestellt hatten. Nebenan in der Dreherei wurde es auch still. Erst auf seine Vorhaltungen hin, sagten ihm die Arbeiter, dass sie unter den herrschenden Umständen nicht weiter arbeiten werden. Die Beladung des LKWs hatten der Kranführer und die Verladearbeiter ebenfalls eingestellt.

Der Funke zum Aufstand, von den Bauarbeitern in Berlin gezündet, hatte auch die Industriearbeiter erreicht!

Der Fahrer und ich beschlossen, ohne in Roßlau und im Werk Köthen gewesen zu sein, mit einer unvollständigen Ladung sofort nach Staßfurt zurückzufahren. Auf der Rückfahrt ging es lebhafter zu als auf der Hinfahrt. In jeder Ortschaft, die wir durchfahren mussten, standen Menschen auf der Straße zusammen oder standen vor Lebensmittel-Verkaufsstellen besonders nach Brot an. Wir selbst deckten uns dann auch mit Brot ein, es könnte ja möglich sein, der Streik erfasst auch die Bäckereien. Mehrmals hielten uns Zivilisten an und fragten, was wir wohl wüssten und sich anderen Ortes zuträgt. Misstrauen, wir könnten ja irgendwelche nicht zu durchschauende Funktionäre sein oder sogar Akteure, je nach Einstellung der Fragenden, schlug uns auch entgegen.

Im Werk in Staßfurt angekommen, wurde ich sofort vom Werkschutz zur Betriebsleitung, die mit Funktionären von der BGL, BPO und mit mir nicht bekannten Leuten zusammen saßen, geführt. Ich hatte über das unterwegs Gesehene und Erfahrene zu berichten. Es herrschte große Beunruhigung, denn das Werk war seit der Mittagszeit von jeder Verbindung nach außen, über Telefon und Straßenverbindung, besonders zur Bezirksleitung in Magdeburg, abgeschnitten. Ich wurde an meinen Arbeitsplatz entlassen mit dem Hinweis, über meine Wahrnehmungen Stillschweigen zu bewahren. Keine leichte Aufgabe, denn meine Umgebung wollte von mir wissen, was sich draußen bewegt. Die Vorgänge hatten sich jedoch, auch ohne mein Dazutun, mit wilden Gerüchten gepaart, bereits herum gesprochen. Die Unruhe ließ keine konzentrierte und zügige Arbeit mehr aufkommen.

Donnerstag, der 18. Juni 1953. Der Arbeitstag begann wie immer, doch es hielt kaum einen Werksangehörigen an seinem Arbeitsplatz. Viele versammelten sich auf dem Werkshof und noch mehr drängten in das gegenüberliegende Sozialgebäude "Ernst-Thälmann-Haus". Dort hatten sich im Saal auf dem Podium Arbeiter zusammengesetzt und berieten über einen auszurufenden Streik. Die Hinzugekommenen heizten die Stimmung durch lautstarke Zwischenrufe und Meinungsäußerungen an, es brodelte wie in einem Hexenkessel. Mit großer Mühe verschaffte sich eine aus sieben Kollegen gebildete Streikleitung Gehör. Ihre Forderungen nach Rücknahme der erhöhten Arbeitsnormen und Senkung der Lebenshaltungskosten gipfelten letztlich in den Forderungen nach Rücktritt der Ulbricht-Regierung, nach freien und geheimen Wahlen und nach Abzug der Besatzungsmacht. Vom Generalstreik war auch die Rede. Der Kesselschmied Walter K. wurde zum Sprecher gewählt und Udo L. sollte die Anliegen der Lehrlinge vertreten. Eine Delegation begab sich zu den Nachbarbetrieben, mit dem Auftrag, diese zu einem gemeinsamen Streik zu bewegen. Doch da machten nicht alle mit und zögerten, wie auch die Reichsbahner und Postangestellten. Funktionäre der BGL und der BPO ließen sich nicht blicken, auch die Angehörigen des Werkschutzes hatten sich zurückgezogen. Von der Werkleitung versuchte der Arbeitsdirektor Otto Berg zu den Versammelten zu sprechen, um sie zur Rückkehr an ihren Arbeitsplatz zu bewegen. Er konnte sich glücklich schätzen, dass er nicht gelyncht wurde. Im Werk begannen einige Arbeiter persönliche Rechnungen mit missliebigen Vorgesetzten und Parteigenossen begleichen zu wollen und schreckten auch vor Plünderungen und Zerstörungen nicht zurück. Von besonnenen Werksangehörigen wurde das sofort unterbunden. In der Stadt blieb es verhältnismäßig ruhig. Die Verkaufsstellen hatten geöffnet, aber auch hier gab es eine lebhafte Nachfrage nach Brot und anderen Lebensmitteln. Volkspolizisten, sonst stets parat, ließen sich nicht blicken.

Bevor die Verhängung des Ausnahmezustandes in Berlin und in Magdeburg in der Mittagszeit bekannt wurde, trafen sowjetische Truppen, aus Richtung Förderstedt kommend, am Werk ein. Durch den Lärm im Thälmann-Haus war das Rasseln der Kettenfahrzeuge auf der Straße drinnen fast überhört worden. Die Russen machten einen übernächtigten und nervösen Eindruck. Mit schussbereiten MPis bezogen sie Stellung auf beiden Seiten der Straße. Die schweren MGs auf den Schützenpanzern wurden auf das Haupttor und den Eingang zum Thälmann-Haus gerichtet. Dem Befehl zur sofortigen Räumung der Werksanlagen und der Straße wurde unter dieser massiven Bedrohung Folge geleistet. Fast jeder der über Eintausend Versammelten war schockiert. Mit einem bewaffneten Eingreifen durch die Sowjets, noch am gleichen Tag, hatte kaum jemand gerechnet. Wäre auch nur ein nervöser russischer Finger am Abzug verrutscht, denn die Waffen waren entsichert, hätte es in der Atzendorfer Straße ein Blutbad gegeben. Einzeln, in Gruppen zu gehen oder stehen zu bleiben, war von den plötzlich wieder aufgetauchten Volkspolizisten mit schussbereiten Gewehren bewaffnet, verboten worden, verließ wohl jeder Beteiligte, in höchst bedrückter Stimmung, den Betrieb und die Umgebung.

Freitag, der 19. Juni 1953. Ab fünf Uhr früh durfte die Straße wieder betreten werden. Am späten Nachmittag des Vortages fuhren Lautsprecherwagen der Volkspolizei (VP) durch die Straßen und forderten die Werktätigen auf, die Arbeit am Freitag früh wieder aufzunehmen. Das geschah auch, aber in einer beklemmenden Atmosphäre. Es hatte sich schnell herum gesprochen, dass die Beteiligten an der Streikleitung und andere verhaftet waren. Vor den Werkhallen kam es, bevor die Arbeit begann, zu einer Versammlung. Die Funktionäre waren wieder aufgetaucht und wollten mit Versprechungen beschwichtigen. Die Menge aber forderte, mit dem Mut der Verzweiflung, die Freilassung der Verhafteten. Ein klares Zugeständnis blieb jedoch aus. Kurz nach Arbeitsbeginn fuhren in der Atzendorfer Straße wieder die Sowjets auf und richteten ihre schweren MGs auf das Werktor und die Fenster der Betriebsgebäude. Von denen, die in unmittelbarer Nähe an der Straße ihren Arbeitsplatz hatten, ging ein spontanes Aufbegehren aus. Einer stand auf und sagte laut: "Unter der Bedrohung von Panzern und MGs kann ich nicht arbeiten", und ging zur Tür. Ohne lange zu überlegen, schloss ich mich ihm an. Wir blieben nicht allein, auch aus weiteren Arbeitsräumen und aus den Werkhallen kamen sie heraus und strömten zum Werktor hinaus. Werkschutz, VP und die Sowjets waren überrascht und sprachlos und ließen alle ungehindert ziehen. Wieder fuhr die VP mit Lautsprecherwagen durch die Straßen und forderte, die Arbeit wieder aufzunehmen.

Samstag, der 20. Juni 1953. Enttäuscht, verbittert, aber auch verunsichert fühlte sich der größte Teil der Kollegen und Kolleginnen. Die Arbeit lief nur schleppend an. In den nachfolgenden Wochen musste die ausgefallene Arbeitszeit nachgeholt werden. Fast täglich wurden Kollegen vermisst. Es blieb immer ein Rätsel, haben sie sich "nach Westen abgesetzt" oder wurden sie verhaftet? Nur wenige kamen nach tagelangen Verhören bei der VP und der Staatssicherheit (STASI) zurück. Sie schwiegen beharrlich und ihre Umgebung am Arbeitsplatz traute ihnen nicht mehr. In den anderen Staßfurter Betrieben haben sich die Vorgänge ähnlich abgespielt.

Von April bis Juni 1953 wurden wieder 112.560 Menschen aus der DDR in westlichen Notaufnahmelagern registriert. Das ZK der SED verurteilte den Arbeiteraufstand als "faschistische Provokation", für die "westliche Agentenzentralen" verantwortlich gemacht wurden. Die SED räumte lediglich ein, dass die "Missstimmung" eine Folge ihrer Politik im letzten Jahr gewesen sei! Die Löhne in der DDR blieben auf dem Stand vom 1. April 1953, die Mindestrenten wurden um 10 Mark pro Monat erhöht und Verbesserungen in der Versorgung zugesagt. Gleichzeitig wurde der Polizei- und Staatssicherheitsapparat verstärkt. Um das Ausmaß der Erhebung zu verschleiern, wurde die tatsächliche Höhe der Todesopfer, Verletzten und Verhafteten zu niedrig angegeben.

Das Aufbegehren der Arbeiterschaft war spontan! Es gab weder von außen noch in der DDR eine gelenkte Provokation. Die Arbeiter selbst waren es, weil die Not ihrer Familien sie dazu getrieben hatte. Die nach Ausbruch des Aufstandes vom Westen erhoffte Unterstützung und Führung, um der Erhebung zum Erfolg zu verhelfen, blieb aus.

Den Menschen in der Bundesrepublik verhalf dieser Aufstand, über Jahrzehnte, zu einem gesetzlichen Feiertag! (Was ich persönlich nicht verstanden habe.)

[Quelle: Bericht von Ernst Laue, Bremen 1993, überarbeitet 2003 (ehemaliger Staßfurter Bürger, 1954 Flucht in die Bundesrepublik, heute 82 Jahre alt); enthalten in: Landesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen in Sachsen-Anhalt, Materialerhebung zum 17. Juni 1953, Magdeburg 2003.]