Günter Raabe
Der 17. Juni 1953 in Bitterfeld


[Günter Raabe hat seinen Bericht über den 17. Juni 1953 auf Bitte der Landesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes in Sachsen-Anhalt im Jahr 2002 verfaßt. Er möchte ausdrücklich darauf hinweisen, daß Erinnerungen nach 49 Jahren verblassen und nicht alles Erlebte im Gedächtnis haften bleibt.

Günter Raabe ist 1935 in Heiligenstadt/Eichsfeld geboren. 1938 zogen seine Eltern mit ihm nach Bitterfeld um, wo Vater Otto Raabe in der Dessauer Straße ein Lebensmittelgeschäft führte.]

Wir, das heißt meine Eltern und ich, hatten am 16. Juni in den Abendnachrichten, natürlich im verbotenen Sender RIAS, gehört, daß in Berlin Bauarbeiter wegen der Normenerhöhungen auf der Straße demonstriert hatten. Bei uns kam Erstaunen und große Freude auf, aber wir dachten, daß diese Demonstration zwar etwas Bedeutendes, aber auch Einmaliges bleiben würde.

Am nächsten Tag (17. Juni) war es in dem Haus (7-Familienhaus in der Stalinstr. 25), in dem wir wohnten, unruhig. Hausbewohner berichteten, im Werk (damit war das VEB-EKB, also das Elektrochemische Kombinat Bitterfeld gemeint) würden die Arbeiter demonstrieren. Genaueres konnte niemand sagen, aber alle waren in gespannter Aufmerksamkeit.

In meiner Erinnerung war dieser Tag ein sonniger Tag, wir wohnten im Erdgeschoß und hatten die Fenster zur Straßenseite auf. Es muß so gegen frühen Mittag gewesen sein, als draußen Stimmengewirr ertönte, zunächst verhalten, dann immer lauter. Ich stürzte zum Fenster und sah gerade an der Ecke zur Stalinstraße, wo früher die Maschinenfabrik Martin war, auf breiter Front Männer marschieren, viele von ihnen in Arbeitskleidung. Auch in den anderen Häusern in unserem Straßenabschnitt standen Menschen an den Fenstern. Sie wurden von den Demonstrierenden aufgefordert, mit zu demonstrieren. Viele kamen dieser Aufforderung nach, so auch ich.

Der Demonstrationszug teilte sich an der Ecke Stalinstraße/Lindenstraße. Die meisten Menschen liefen die Lindenstraße hoch in Richtung Stadtmitte, andere in Richtung Bahnhof. Das letzte Haus auf der rechten Seite vor dem Bahnhof, bekannt als "Stasi-Quartier", wurde gestürmt; die Funktionäre hatten sich wohl rechtzeitig verdrückt. Viele Menschen drängten sich in das Haus, Möbel und viele Akten wurden aus Fenstern und Türen nach draußen befördert.

Eine große Menschenmenge versammelte sich vor dem Amtsgericht, in dessen hinterem Teil sich das Gefängnis befand, und forderte, die Gefangenen frei zu lassen. Ein LKW, auf dessen Ladefläche sich Bänke befanden, die von Volkspolizei besetzt waren, wurde, nachdem die Polizisten abgestiegen waren, von der Menschenmasse umgestürzt. Die Polizisten mußten ihre Schulterstücke abliefern.

Mein Weg führte nun zur Oberschule I. Der Unterricht war abgebrochen worden, die Schüler standen auf dem Schulhof. Es hieß: ‚Auf zur Binnengartenwiese, dort wird das Streikkomitee seine Forderungen verkünden.' Einige Funktionäre, denen es wohl nicht rechtzeitig gelungen war, die Parteiabzeichen abzulegen, wurden von Arbeitern gezwungen, in den nahen Bach Lober zu steigen, um dort bachaufwärts zur Binnengartenwiese zu laufen. Als auch ich dort angelangt war, befanden sich auf diesem Platz dichtgedrängt unzählige Menschen. Auf einem Lastwagenanhänger standen mehrere Männer, wohl das Streikkomitee. Dieses verkündete nun seine Forderungen. Jede dieser Forderungen wurde von einem Beifallsturm begleitet. Nach Beendigung der Kundgebung begann die Menge sich zu verlaufen, aber schon bald machte die Kunde "Die Russen kommen" die Runde und jeder sah schnell zu, wie er nach Hause kam.

Ich bin noch über den Marktplatz in Richtung Burgstraße gegangen. In Höhe des Friseurs Köckert hörte ich mehrere Schüsse, die wohl von inzwischen eingetroffenen russischen Truppen abgegeben wurden. Verletzte soll es nicht gegeben haben, es werden wahrscheinlich nur Warnschüsse, die in die Luft abgegeben wurden, gewesen sein. Noch am Abend des 17. Juni wurde der Ausnahmezustand ausgerufen und es wurden Plakate ausgehängt, auf denen stand, was man alles nicht durfte.

Der 17. Juni war in Bitterfeld, wie überall in der damaligen DDR, ein Tag, der voller Hoffnung begann, am Abend aber in Enttäuschung und Agonie endete. Spätestens an diesem Tag war mir klar, daß dieser Staat nicht der Staat war, in dem ich bleiben konnte. Im Mai 1957 verließ ich die DDR, versehen mit Lehrabschluß und Abitur, um in der Bundesrepublik das zu erreichen, was mir in der DDR von der Herkunft nicht möglich war, nämlich zu studieren.

[Quelle: Bericht von Günter Raabe, August 2002, enthalten in: Landesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen in Sachsen-Anhalt, Materialerhebung zum 17. Juni 1953, Magdeburg 2002.]