Hans-Jürgen Schäfer, Schüler, über den 17. Juni und die Tage danach in Bad Tennstedt/Thüringen


Abschrift


Hans-Jürgen Schäfer, Schüler


Ich entsinne mich dieses Tages, dass seit den Mittagsstunden über dem Städtchen eine gewisse Unruhe lag. Radio RIAS hören, tuscheln und reden mit vorgehaltener Hand, ließ etwas ahnen von den Ereignissen, die sich am frühen Abend dort zugetragen haben. Wie immer läutete die Abendglocke gegen 18:00 Uhr, und mehrere Menschen versammelten sich auf dem Marktplatz, teils mit Transparenten, die die Forderung enthielten, inhaftierte Bürger der Stadt sofort wieder frei zu lassen. Der Zug setzte sich in Bewegung und je länger, umso mehr Menschen kamen hinzu. Ich verfolgte das Geschehen etwas entfernt, und mein Herz klopfte ob der ungeahnten Situation, je länger, je mehr.
Der Strom der Menschen schwoll all und kam auf dem Marktplatz zum Stehen. Der Pfarrer und Superintendent Herr Gerhard Sammler trat vor die versammelte Menge, und da lief es mir doch kalt über den Rücken, als er ankündigte: Wir singen aus dem Lied: "Deutschland, Deutschland über alles" die dritte Strophe. Danach sprach er Worte der Befreiung, die in diesem Moment Hoffnungen und Träume weckten. Es war mächtig und gewaltig, und man merkte in seiner Persönlichkeit den Pfarrer und Seelsorger. Andere schlossen sich an und forderten ebenfalls die Einheit Deutschlands in Freiheit. Am Schluss sangen wir noch das Lied "Ein feste Burg ist unser Gott", und Pfarrer Sammler vermahnte, in Ruhe auseinander zu gehen.
Nächtens wurden dann doch DDR-Plakate und Losungen auf den Straßen umgestoßen und zertreten. (...)
Am nächsten Tag in der Schule, bevor der Lehrer erschien, hängten wir die Bilder von Stalin und Pieck ab.
Wenige Tage später wurde aus seinem Versteck auf einem Heuboden Pfarrer Sammler verhaftet und in die U-Haft nach Erfurt verbracht. Ein großer Schrecken ging durch die Gemeinde. Am darauf folgenden Sonntag war die Kirche gut gefüllt, und der Erfurter Propst Dr. Verwiebe versuchte die Gemeinde zu trösten.
Nach weiteren drei Wochen drang das Gerücht durch den Ort, dass der Superintendent wieder frei ist und den Gottesdienst halten wird. Die Kirche war bis zum Bersten gefüllt. Als er zum Gottesdienst in die Kirche kam, erhob sich die Gemeinde, um ihn damit zu ehren. Es war eine zu Herzen gehende Predigt, und am Ende dankte die Gemeinde Gott mit dem Lied. "Nun danket alle Gott, mit Herzen, Mund und Händen".
Eindrücke eines Dreizehnjährigen.

[Quelle: Peter Lange/Sabine Roß (Hg.), 17. Juni 1953 ñ Zeitzeugen berichten. Protokoll eines Aufstands, unter Mitarbeit von Barbara Schmidt-Mattern im Auftrag der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur und des Deutschlandfunk, Münster 2004, S. 287-288 u. 357.]