Christoph Kleßmann
Der 17. Juni 1953 im Geschichtsbild Deutschlands gestern und heute


In der alten Bundesrepublik war der 17. Juni bekanntlich seit 1954 als "Tag der deutschen Einheit" zum prekären Nationalfeiertag avanciert. Prekär, weil er dort gefeiert wurde, wo er nicht stattgefunden hatte, und die Bevölkerung im Laufe der Jahre zunehmend ins Grüne fuhr, statt den Reden zu lauschen, die im Bundestag und auf anderen Veranstaltungen in Städten und Gemeinden gehalten wurden.

Der ehemalige Streikleiter der Zeiss-Werke in Jena stellte Mitte der 60er Jahre auf einer Pressekonferenz in Westberlin als Repräsentant der in der Bundesrepublik lebenden Teilnehmer des Aufstandes voller Bitterkeit fest: "Bei der ersten Jahresfeier saßen wir noch in der ersten Reihe, ein Jahr später in der zwölften, und dann wollte man nichts mehr von uns wissen." Das traf, wenn auch überspitzt, die Situation und spiegelt zugleich eine Entwicklung, deren Darstellung und Analyse das Thema dieses Beitrages sein soll. Es geht also nicht um das Ereignis selbst, sondern um seinen Stellenwert im Geschichtsbild und Geschichtsbewußtsein, die wichtige Elemente in der politischen Kultur eines Landes sind.

Dabei beschränke ich mich bis 1989 im wesentlichen auf Westdeutschland, weil nur hier die ganze Palette der Erinnerungskultur faßbar ist, während dieses Ereignis, das zu den Schlüsseldaten der DDR-Geschichte gehört, von der SED bekanntlich tabuisiert bzw. in grotesk verzerrter Form als vom Westen gesteuerter faschistischer oder konterrevolutionärer Putschversuch stigmatisiert wurde. Ein besonders fatales Beispiel bot eine Woche nach dem Aufstand der spätere renommierte Bismarck-Biograph, Ernst Engelberg, auf einer Versammlung Leipziger Historiker. Er zog Parallelen zum Novemberpogrom von 1938 und fragte, ob das eine zufällig Parallele sei. "Wer erinnert sich nicht der Schläger- und Mordkolonnen der SA schon aus den Jahren vor 1933? [...] Dieselben wutverzerrten, stumpfsinnigen Fressen, dieselbe Randalierwut, dasselbe verlogene Gekröhle (sic). Es soll keiner mehr kommen und versuchen, dem 16. und 17. Juni solch ein bißchen echte Arbeiterbewegung anzudichten."1 Diese Methode, einzelne Exzesse, die es ohne Zweifel gegeben hat, zur Gesamtcharakteristik einer Massenbewegung zu benutzen und abenteuerliche Parallelen zur Nazi-Zeit zu ziehen, ist bei linientreuen Genossen möglicherweise nicht ohne Wirkung geblieben und hat dem Insistieren auf der antifaschistischen Legitimationsideologie um so größeren Nachdruck verliehen.

Daß der 17. Juni gleichwohl ein traumatisch besetztes Datum war und blieb, und zwar für die Machtelite ebenso wie unter anderem Vorzeichen für die Aufständischen und die betroffene Bevölkerung, steht auf einem anderen Blatt. Persönliche Erfahrungen wurden gewissermaßen eingekapselt, erst 1989 konnte darüber offen gesprochen werden. Interne Quellen wie die Berichte des Ostbüros der SPD und mit anderem Vorzeichen der Stasi zeigen jedoch sehr deutlich, wie nachhaltig die Aufstandserfahrung zumindest in den 50er Jahren nachwirkte. Hingegen lohnt es nicht, das offiziöse, auf die genannten Formeln reduzierte Geschichtsbild der Staatspartei zu untersuchen. Es blieb auf frappierende Weise über die Jahrzehnte hinweg konstant (mit kleinen Varianten) und konnte auch in der publizierten Belletristik kaum andere Nuancen entfalten. Versuche, die Schablone zu durchbrechen, wie Stefan Heyms "Fünf Tage im Juni", fielen dem Zensor zum Opfer und konnten nur im Westen erscheinen. Dabei ist besonders bemerkenswert, daß die offiziöse Putsch-Konstruktion von Politikern und Historikern stammte, die sich auf die Prinzipien des Historischen Materialismus beriefen und gelernt haben wollten, Massenaktionen aus komplexen sozialökonomischen Bedingungen zu erklären, statt sich in platte Verschwörungs- oder Verführungstheorien zu flüchten wie Friedrich Wilhelm IV in der Revolution von 1848. Karl Marx, dessen historisch-politische Analysen aus dem 19. Jahrhundert immer noch einen hohen methodischen Nutzwert besitzen, hätte sich bei derartigen Platitüden im Grabe umgedreht. Daß es anders möglich war, hat der polnische Parteichef Gomulka im polnischen "Frühling im Oktober" 1956 gezeigt, als er die offizielle Parteininterpretation des Posener Juni-Aufstandes von 1956, der viele verblüffende Parallelen zum 17. Juni zeigt, einer schneidenden Kritik unterwarf: "Der plumpe Versuch, die schmerzliche Posener Tragödie als das Werk imperialistischer Agenten und Provokateure hinzustellen, war wirklich politisch sehr naiv. [...] Die Gründe für die Tragödie von Posen und für die tiefe Unzufriedenheit bei der Arbeiterklasse liegen bei uns selbst, bei den Führern der Partei, bei der Regierung. Der Zündstoff speicherte sich im Verlauf von Jahren auf."2 Dies war bemerkenswert realistisch und hätte paßgenau auch für den 17. Juni 1953 gegolten.

Zunächst ein paar Vorüberlegungen zur Themenformulierung. Was Geschichtsbild und Geschichtsbewußtsein bedeuten und wie man sie methodisch erfassen kann, ist nicht nur eine akademische Frage. Mit dem Begriff der kollektiven Identität sieht es ähnlich aus. Er wird häufig verwandt, ist aber bei näherem Hinsehen so kompliziert, daß Lutz Niethammer am Ende einer umfangreichen Spurensuche dafür plädiert hat, auf diese blaue Blume zu verzichten und sich mit einer konkreten Verständigung über Zugehörigkeiten und Affinitäten zu begnügen.3

Eine wichtige Feststellung läßt sich vorweg treffen: es gibt Geschichtsbild und Geschichtsbewußtsein in einer pluralistischen Gesellschaft nur im Plural, als verschiedene, mehr oder minder feste oder vage Geschichtsbilder und als unterschiedliche Formen von Geschichtsbewußtsein, die jeweils bei unterschiedlichen sozialen Gruppen, Generationen und Individuen zu unterschiedlichen Zeitpunkten aufzusuchen sind. Man kann solche Überlegungen schnell bis ins Absurde treiben. Ich möchte jedoch nur auf die Begrenztheit unserer Aussagen verweisen und für die Reflexion unserer Urteile plädieren - also für etwas, das zum genuinen Geschäft von Geschichte als Wissenschaft gehört. Dominante Inhalte und Muster von Geschichtsbewußtsein lassen sich sehr wohl herausfinden, auch wenn diese dann im einzelnen zu differenzieren sind. Das gilt insbesondere für Geschichtsbilder, die durch Sozialisationsinstanzen (Familie, Freunde, Gruppen, Schule), durch eigene Erfahrungen und Massenmedien vermittelt werden. Sie wirken insgesamt ohne Zweifel nachhaltig auf die Ausbildung und Prägung von Geschichtsbewußtsein, nur läßt sich selten genau feststellen, wie.

Vier Möglichkeiten liegen nahe, um zu präziseren Aussagen über Geschichtsbilder zum Thema zu kommen: 1. Die Analyse von Schulbüchern. Hier handelt es sich um Texte, die viele Diskussions- und Kontrollstufen durchlaufen haben, die zwar der Fachwissenschaft meist erheblich hinterherhinken, aber nicht ohne Bezug zu ihr sind, und die über weit verbreitete Bilder, aber auch über politisch und gesellschaftlich gewünschte Urteile viel aussagen; 2. die Untersuchung von Reden, Feiern und Veranstaltungen der politischen Klasse, die einige Aufschlüsse über die politische Kultur, über Geschichtspolitik und Erinnerungskultur eines Staates geben. Auch hier stößt man naturgemäß schnell an die Grenzen der Untersuchungsmöglichkeit, weil das Feld prinzipiell uferlos ist; 3. die Analyse der in den Massenmedien (Tagespresse, Illustrierte, Rundfunk, Wochenschauen) veröffentlichten Meinung, die sich nicht unbedingt mit der öffentlichen Meinung, die von den Demoskopen aufgespürt wird, deckt. Beides zu betrachten, ist wichtig, aber u.U. extrem aufwendig und nur selten genauer quantifizierbar; 4. die Befragung der Historiographie. Das ist die relativ einfachste und zumindest insofern ergiebigste Methode, als sie - ohne ihren tatsächlichen Einfluß überschätzen zu wollen - eine wesentliche Grundlage auch der drei anderen genannten Quellenarten bildet. In der gebotenen Kürze und ohne weitere Erörterung methodischer Skrupel will ich im folgenden diese vier Zugänge nutzen, um so einen Gesamteindruck des Themas im Laufe von 50 Jahren zu geben. Als These läßt sich aus meiner Sicht formulieren:

Die Inhalte der Darstellungen und Bilder zum 17. Juni haben sich weniger stark verändert, als manche öffentlichen Debatten heute suggerieren, die Gewichtungen und Urteile dagegen haben sich erheblich verschoben.

1. Zu Schulbüchern liegen erstaunlicherweise kaum Untersuchungen vor. In jüngeren Büchern aus den 90er Jahren ist der Aufstand stets prominent vertreten. Die Begriffe weisen eine breite Streuung auf: Aufstand, Volksaufstand, Arbeiteraufstand, Aufruhr gegen das System. Die sowjetische Intervention, die Verfolgung der Aufständischen werden durchweg genannt, der offizielle Gedenktag in der Bundesrepublik nur selten.4

Probeweise Tests in älteren Schulbüchern zeigen, daß der 17. Juni meist erwähnt wird, in ganz knappen Darstellungen der Nachkriegsentwicklung allerdings manchmal auch in der systematischen Gliederung entfällt. Insgesamt ist jedoch ohne eine umfassende genaue Analyse aus diesem Bereich wenig Honig zu saugen.

2. Ähnliches gilt für die veröffentlichte Meinung. Es gibt meines Wissens keine ausführliche Presse- oder gar Rundfunk- und Fernsehanalyse zu dieser Thematik. Es wird jedoch keine zu kühne Vermutung sein, daß sich hier prinzipiell, wenn auch in einer größeren Bandbreite, ähnliche Bilder und Akzentverschiebungen feststellen lassen wie für die Historiographie und die politischen Debatten und öffentlichen Gedenkreden. Das Jahrbuch für öffentliche Meinung aus Allensbach (1947-1955) hat immerhin eine Rubrik "Geschichtsbild", in der sich interessante Daten zu historischen Leitfiguren, zur Weimarer Republik, zum NS u.a. finden lassen. Unter "Miscellen" steht dort auch die Frage vom Juli 1953: "Finden Sie, daß die Opfer des Aufstandes in Ost-Berlin und in der Ostzone ihr Leben umsonst eingesetzt haben oder hat ihr Einsatz für Deutschland einen Sinn gehabt?" Die Antworten lauteten: 58% ja, hat einen Sinn, 19% umsonst, 23% weiß nicht.5 Im Jahrgang 1957 ist der Aufstand nicht mehr zu finden. Es mag sein, daß es aus späteren Phasen demoskopisches Material gibt, herausragend ist das Ereignis jedoch in einschlägigen Büchern mit Daten zur politischen Kultur nicht vertreten.

Ganz anders sieht das bei öffentlichen patriotischen Aktivitäten und bei den Debatten des Bundestages aus, über die es bereits eingehende zusammenfassende Analysen gibt. In den ersten Wochen nach dem Aufstand war das historische Ereignis im Westen überall präsent: in Hunderten von Kommentaren, Artikeln, Berichten. Im Wahlkampf - am 6. September 1953 war Bundestagswahl - spielte es eine wichtige Rolle. Illustrierte druckten eindrucksstarke Fotoserien mit den Bildern, die heute allgemein bekannt sind. Ein Weißbuch der Bundesregierung rekonstruierte einen genauen Ereignisverlauf anhand von Augenzeugenberichten. Die "Bundeszentrale für Heimatdienst" verbreitete Veröffentlichungen dazu in hohen Auflagen. Die Zahl privater Zeitzeugenberichte schwoll schnell an. Es entstand, so hat Edgar Wolfrum das neue schriftstellerische Genre charakterisiert, "eine merkwürdige Mischung aus Erlebnisbericht, Geschichtsbuch, Unterhaltungsliteratur und politischer Analyse, deren einigendes Band der zeittypische Antikommunismus war."6 Reißerische Sprache und aufgeblähtes Pathos gehörten häufig dazu. Oft schwang Erleichterung in den Berichten mit, daß die Bewohner der "Zone" trotz massiver ideologischer Beeinflussung Deutsche und freiheitsliebende Menschen geblieben waren. Unter den Parteien tat sich die FDP besonders bei kultischen Inszenierungen hervor. Der liberale Parteinachwuchs hielt am 17. Juni 1953 zu mitternächtlicher Stunde am Zonenübergang bei Lübeck eine "Reichstreuekundgebung" ab: mit Fackelschein und dem Musikkorps Lübeck im Verbande deutscher Soldaten.7 Manche Formen erinnerten an die frühe deutsche Nationalbewegung. Junifeuer gab es (nach Wolfrum) bis Mitte der 60er Jahre in der Bundesrepublik. Am Hermannsdenkmal im Teutoburger Wald wurden in der Tradition patriotischer Verbände Hermannsläufe ins Leben gerufen. Denkmäler und Mahnmale für die Wiedervereinigung wurden massenhaft errichtet. Insgesamt zeigt sich also ein außerordentlich breites Spektrum von Aktivitäten in der Geschichtspolitik und Erinnerungskultur. Ein für unsere Frage nach dem Geschichtsbild aufschlußreiches Genre sind die Bundestagsdebatten und Feierstunden zum Tag der nationalen Einheit.

3. Beginnen kann man mit der Bundestagsdebatte, die sich an Adenauers Regierungserklärung vom 1. Juli 1953 anschloß. Darin versuchte der Kanzler, vom Aufstand in der DDR einen Bogen zu seiner Politik der Westintegration zu schlagen. Die Unterstützung der Westmächte werde die Wiedervereinigung bringen und so das Vermächtnis der Aufständischen einlösen. Herbert Wehner dagegen sah in seiner erregten Entgegnung in der Erhebung die Bestätigung der SPD-Politik, die Besatzungsmächte zu intensiveren Anstrengungen um die Wiedervereinigung zu drängen. Tumultartige Szenen begleiteten dann Willy Brandts Rede. Für ihn war es ein Aufstand der Arbeiterklasse, in dem sich soziale und nationale Ziele verbanden. "Diese Arbeiter haben sich nicht nur als Mitkämpfer, sondern als Vorkämpfer an der Spitze des Ringens um Einheit in Freiheit bewährt. Sie haben, wie in allen großen revolutionären Krisen, den Kampf um ihre unmittelbaren wirtschaftlichen und sozialen Forderungen mit den Interessen der gesamten Nation verknüpft (...)." Es sei jedoch nirgendwo der Ruf nach Anschluß an die Bonner Republik laut geworden. Sozialismus war für Brandt auch ein nationales Emanzipationsprojekt. Die Erregung erreichte einen Höhepunkt, als Brandt in einer scharfen Wendung gegen die Regierung von den aufständischen Arbeitern sagte: "Sie wollen demokratisieren, nicht restaurieren."8 Auch in den zeitnahen Aktionen des DGB rückte der 17. Juni in die Traditionslinie der sozialistischen Arbeiterbewegung. In vielen Varianten wurde das Grundmuster der sozialdemokratischen und gewerkschaftlichen Deutung des Aufstandes sichtbar: eine Art sozialdemokratische Doppelrevolution gegen den kommunistischen Totalitarismus und gegen den restaurativen kleindeutschen Bonner Teilstaat.9

Mit wachsender zeitlicher Entfernung vom Ereignis und mit der außen- und gesellschaftspolitischen Umorientierung der SPD verschwand diese sozialistische Deutungskomponente. Die nationale Substanz des Feiertags aber wurde ebenfalls immer dünner. Schon vor dem Mauerbau, der ja deutschlandpolitisch auch einer großen Desillusionierung gleichkam, gab es endlose öffentliche Debatten darüber, wie man den Tag angemessen und würdig begehen solle. Bundespräsident Heinrich Lübke, der damals noch nicht wegen seiner rednerischen Fehlleistungen zum Gespött der Medien und des Kabaretts geworden war, auch wenn seine gut gemeinten nationalpolitischen Ermahnungen stets ziemlich altbacken daherkamen, machte deshalb 1963 den 17. Juni zum "Nationalen Gedenktag des deutschen Volkes" - veröffentlicht im Bundesgesetzblatt. "Die Redlichkeit unserer Gesinnung", hieß es darin, "wird daran gemessen werden, wie wir den Tag der deutschen Einheit begehen. Dieser Tag darf nicht den Feiertagen zugerechnet werden, die zur Entspannung, Erholung oder gar dem Vergnügen dienen".

Das war ebenso ehrlich und gut gemeint wie illusorisch. Denn die "deutsche Frage" verlor mit der unübersehbaren und unaufhaltsamen Vertiefung der Teilung für die breite Bevölkerung Westdeutschlands, die sich zunehmend in ihrer Doppelhaushälfte einrichtete, an politischer und emotionaler Brisanz. Dieser Schwund an nationalem Bewußtsein und Zusammengehörigkeitsgefühl angesichts immer schwieriger werdender Kommunikation zwischen beiden Teilen Deutschlands machte einen nationalen Gedenktag, der nicht aus einer tiefer reichenden kollektiven Erfahrung gespeist wurde, zu einem künstlichen Gebilde. Die Trivialisierung machte daher rasante Fortschritte. Das nordrhein-westfälische Vergnügungsgewerbe protestierte beispielsweise gegen vorgesehene staatliche Restriktionen, die Staus auf den Autobahnen wurden an diesem Feiertag immer länger, öffentliche Gedenkveranstaltungen wurden mangels Publikumsinteresse auch schon einmal wieder abgesagt und der "Spiegel" brachte bereits 1960 die bis zur Inhaltsleere abgedroschene Politiker-Formel "Einheit in Freiheit" in einer Reportage zum 17. Juni bissig auf den Titel "Einheit in Freizeit".10 Zwar konstatierte die Bundesregierung noch 1964, alljährlich nähmen etwa 4,2 Mio. Jugendliche an 42 000 Gedenkstunden in Schulen und Hochschulen teil. Aber zu dieser quantitativ eindrucksvollen Bilanz gehörte wohl auch, was Hamburger Schüler (1962) in einer Schülerzeitung unter dem Titel "Wir wollen keine Sedanfeier" als ketzerische Kritik an den Schulfeiern zum 17. Juni veröffentlichten: "Es war fade, man ging mit ein bißchen feierlicher Miene in die Klischee-Feierstunde für die Oberstufe, dort wurden ein paar Gedichte aufgesagt und mit dem Deutschlandlied auf den Lippen strömte man dem Ausgang zu und ging ins Schwimmbad".11 Publizisten und Politiker forderten angesichts offenkundiger ritueller Aushöhlung immer öfter die Abschaffung des Feiertages oder schlugen den 23. Mai als Verfassungstag als Ersatz vor.

Das alles ist prinzipiell Zeitgenossen aus dem Westen (und vermutlich großenteils auch aus dem Osten) nicht unbekannt und von Edgar Wolfrum in seiner sehr aufschlußreichen Analyse der Geschichtspolitik der Bundrepublik detailliert aufgearbeitet worden. Auch die Reden im Bundestag gehören zentral dazu. An ihnen läßt sich gut verfolgen, wie sich im Zuge der Veränderung der politischen Rahmenbedingungen auch Inhalte und Formen der offiziösen Gedenkstunden wandelten. Die Deutung des Aufstandes spiegelt hier zu einem Gutteil nicht nur veränderte Stimmungslagen, sondern auch den Wandel der Deutschlandspolitik. Das läßt sich hier im einzelnen nicht wiedergeben. Die minutiöse Untersuchung von Matthias Fritton über die "Rhetorik der Deutschlandpolitik", die die Reden zum 17. Juni besonders berücksichtigt, macht das schon in den Kapitelüberschriften gut deutlich: das Jahrzehnt 1953 bis 1963 ist mit "Freiheitsrhetorik" umschrieben, die Zeit bis 1969 als "Annäherungsrhetorik zwischen Adenauer und Brandt". Dann folgt die "Friedensrhetorik" bis 1978, die Zeit "enttäuschter Hoffnungen" bis 1982, die "Rückbesinnung" bis 1986 und schließlich in den letzten beiden Jahren vor der Revolution von 1989 die "Rhetorik einer neuen Dynamik".12 Diese Charakterisierungen, die jeweils dominierende Akzentsetzungen rekonstruieren, bieten ein aus Regierungserklärungen, Bundestagsreden und sonstigen Politiker-Stellungnahmen sorgfältig destilliertes Gesamtbild in seinen Veränderungen. Es läßt sich sicherlich auch anders konstruieren, gibt aber ohne Zweifel die charakteristischen Argumentationsmuster, die nicht nur feierliche Reden betreffen, wieder. Um diesem dürren Phasengerippe etwas mehr Fleisch zu geben, will ich auf einige markante Reden und Veranstaltungen im Zeitverlauf etwas genauer eingehen.

Die erste Gedenkrede des Abgeordneten Franz Böhm im Bundestag 1954 beschrieb den Aufstand im Detail und identifizierte zwei Phasen. Er begann für den Redner als Arbeiteraufstand gegen die Normerhöhung und entwickelte sich dann schnell zu einer Volkserhebung mit politischen Forderungen nach freien Wahlen und damit indirekt nach Wiedervereinigung. Das ist in der Grundstruktur eine präzise Charakterisierung, die bis heute Gültigkeit hat. In den folgenden Jahren läßt sich eine zunehmende geschichtspolitische "Aufladung" der Reden feststellen. Historiker wie Gerhard Ritter und Werner Conze, der Philosoph und Pädagoge Theodor Litt und der wortgewaltige Hamburger Theologe Helmut Thielecke prägten in ihren Reden dem Ereignis vor allem den Stempel grundsätzlicher Reflexionen auf. Viele dieser Reden lassen sich heute nur noch als spezifischer Ausdruck des Zeitgeistes in den 50er Jahren verstehen. So meinte Gerhard Ritter, Repräsentant der protestantisch-nationalkonservativen Historiographie: "Die deutsche Vaterlandsliebe ist unteilbar wie das deutsche Vaterland selbst. Die Geschichte eines Jahrtausends, die uns zu einer Nation zusammengehämmert hat, läßt sich nicht mit Federstrichen der Diplomaten, wie es von Teheran bis Potsdam versucht wurde, einfach hinwegwischen."13 Von einem gelernten Historiker hätte man zumindest den diskreten Hinweis erwarten dürfen, daß diese Nation über viele Jahrhunderte hinweg in einer Vielzahl von Staaten lebte. Traditionslinien zum Vermächtnis des 20. Juli 1944 zu ziehen, gehörte ebenfalls zu den beliebten Denkfiguren. Die Basis dafür bot das Totalitarismuskonzept: in beiden Fällen richtete sich der Aufstand gegen eine totalitäre Diktatur. Auf dieser Abstraktionshöhe funktionierte der Vergleich, ansonsten verband beide Ereignisse wenig. Allen Reden dieser Zeit war das Bemühen gemeinsam, die Bedeutung des Aufstandes ins Bewußtsein zu heben und etwas gegen Gleichgültigkeit und Vergessen zu tun.14 Der Aufstand und die Erinnerung daran delegitimierte aus der Sicht der westdeutschen Gesellschaft das SED-Herrschaftssystem und trug damit zugleich zur Legitimation der Bundesrepublik bei.

Eine interessante neue Nuance brachte der Kieler Historiker Karl Dietrich Erdmann 1965 ein,15 als bereits die Diskussionen um "Wandel durch Annäherung", eine neues Verhältnis zu Osteuropa und auch zur Anerkennung der DDR in der westdeutschen und internationalen Öffentlichkeit intensiver wurden. Der Gedenktag des 17. Juni und die Erörterung der deutschen Einheit verloren bei Erdmann die Fixierung auf ein nationales Problem, die deutsche Frage wurde stärker als europäisches Problem reflektiert. Stellt man diese Überlegungen in den breiteren Kontext der öffentlichen Debatten und der strategischen Veränderungen der Bonner Politik, so zeigen sich in der zweiten Hälfte der 60er Jahre signifikante Verschiebungen. Die heftig umstrittene Ost-Denkschrift der EKD von 1965 und Peter Benders "Zehn Gründe für die Anerkennung der DDR" (1968)16 sind zwei exemplarische Stimmen aus diesem Konzert. Kurt Georg Kiesinger nahm als Kanzler der Großen Koalition diesen Faden auf und sprach in der vorläufig letzten Gedenkstunde des Bundestags 1967 erstmals von der "kritischen Größenordnung" eines wiedervereinigten Deutschlands. Denn es sei "zu groß, um in der Balance der Kräfte keine Rolle zu spielen, und zu klein, um die Kräfte um sich herum selbst im Gleichgewicht zu halten."17 Wir wissen heute genauer, daß sich die Große Koalition und ihr Kanzler bereits um einen neuen Ansatz in der Deutschland- und Ostpolitik bemühten, dabei allerdings zunächst auf kaum überwindbare innere und äußere Hindernisse stießen.

Die tiefste Zäsur in der Geschichte der Gedenkrede ist vielleicht das spektakuläre Jahr 1968. Erstmals gab es keine Gedenkstunde im Bundestag. Kiesinger beschränkte sich auf eine Rundfunk- und Fernsehansprache. Im Jahr darauf debattierte das Parlament den ersten "Bericht zur Lage der Nation im geteilten Deutschland", der seitdem zu einer festen Institution wurde. Gleichzeitig schien sich aber von der entgegengesetzten Seite des politischen Spektrums die linke Studentenbewegung für den Aufstand am 17. Juni zu interessieren. So strömten in Berlin parallel zur traditionellen Kundgebung vor dem Schöneberger Rathaus Berliner Studenten zu einer Veranstaltung, auf der Rudi Dutschke zum Thema diskutierte. Die Ereignisse am 17. Juni wurden als Exempel für gewaltfreien Widerstand gegen Mißbrauch von Herrschaft interpretiert, und mit dem passiven Widerstand gegen den sowjetischen Einmarsch in Prag erhielten solche Deutungen ihre systemübergreifende Aktualität. Im Bundestag fand erst 1978 zum 25. Jahrestag des Aufstandes wieder eine offizielle Gedenkstunde statt. Darin läßt sich bereits eine deutliche Verlagerung des öffentlichen Interesses erkennen, auch wenn unabhängig vom Bundestag natürlich noch vielerlei öffentliche Gedenkfeiern stattfanden und 1982 von der christlich-liberalen Regierung die Bundestagsfeiern wieder eingeführt wurden. Sie hatten freilich noch mehr als früher mit dem bereits erwähnten Problem zu kämpfen hatten, daß eine kritische Öffentlichkeit die ritualisierte Erinnerung als unpassend und überholt empfand.

Ich habe selbst 1986 in Bielefeld diese Erfahrung gemacht, als mich der Stadtrat bat, die Rede zur traditionellen städtischen Veranstaltung zu halten. Ich habe das getan und trotz einer durchaus distanzierten Haltung auch nicht für die Abschaffung des Feiertags plädiert. Manche jüngeren Kollegen registrierten das mit Verwunderung. Überdies gab es gleichzeitig eine gut besuchte Versammlung des Bundes der Vertriebenen mit harschen Ausfällen gegen die endgültige Abschreibung der deutschen Ostgebiete . Auch eine solche verquere Konstellation gehört zur Bilanz von Geschichtsbildern am Tag der deutschen Einheit. Ich habe damals für "Normalisierung" als langfristig angelegte Politik im Verhältnis zur DDR plädiert, weil Wiedervereinigung für mich eine Chimäre war, obwohl ich mit einer selbstverständlichen gesamtdeutschen Identifikation aufgewachsen bin. Zu diesem Irrtum bekenne ich mich gern, zumal mich die nachträgliche Rechthaberei derer, die angeblich stets in Treue fest zur Widervereinigung standen, immer abgestoßen hat. Ein anderer Aspekt ist mir wichtiger. Mir schien nicht zuletzt unter einem vergleichenden Blick nach Polen oder auch in andere Länder, in denen man stolz auf bestimmte Traditionsstränge ist, die Erinnerung an den Aufstand in der DDR trotz seines sperrigen Charakters keineswegs obsolet. Ein Selbstzitat dazu: "Jenseits der Suche nach einer problematisch gewordenen gesamtdeutschen Identität gehört er vor allem in die Reihe von Aufstands- und Freiheitsbewegungen, an denen die deutsche Geschichte nicht eben reich ist."18

Auf ein Beispiel im Bundestag ist noch ausdrücklich hinzuweisen, weil sowohl der Zeitpunkt wie der Redner viel über die damalige Situation aussagen: Erhard Epplers Bundestagsrede von 1989. Als Vertreter des linken Flügels und Vater des angefeindeten SPD-SED-Ideologie-Papiers von 1987 war Eppler als Redner zunächst auf Skepsis gestoßen. Seine Rede, die ohne Zweifel zu den großen Bundestagsreden gehört, brachte ihm dann aber ungewöhnlich breiten Applaus ein. Eppler wollte die deutsche Frage nicht europäisch auflösen, konstatierte ein lebendiges Zusammengehörigkeitsgefühl in beiden Staaten, plädierte gegen eine restaurative Wiedervereinigung und für etwas Neues. Das könne, müsse aber nicht ein deutscher Nationalstaat sein. Seine schneidende Kritik an der orthodoxen SED-Führung ohne politische Perspektiven verband er mit dem Appell zum Nachdenken darüber, "was in Deutschland geschehen soll, wenn der Eiserne Vorhang rascher als erwartet durchrostet."19 Hier zeigte sich eine wache Sensibilität für Veränderungen der politischen Großwetterlage, die nur wenige Zeitgenossen für möglich hielten. Manfred Stolpe hielt dann 1990 die letzte Rede zu diesem Anlaß. Mit der Verlagerung des Nationalfeiertags vom 17. Juni auf den 3. Oktober war die Debatte um den Stellenwert des Aufstandes keineswegs beendet, aber von den bis dato oft peinlichen Zwängen eines politischen Rituals entlastet.

Um so intensiver begann die historische Erforschung, die zwar nicht zu einer völligen Neubewertung führte, aber doch deutliche Verschiebungen mit sich brachte. Damit bin ich bei meinem letzten Punkt.

Nimmt man die Historiographie als Indikator für Geschichtsbilder nach der deutschen Vereinigung, so gibt es zwar - bis auf wenige Ausnahmen - mittlerweile eine breite Konsenszone in der Beurteilung der Ursachen, Abläufe und Wirkungen des Aufstandes. Dennoch sind unterschiedliche Akzentsetzungen deutlich erkennbar. In den ersten Jahren nach 1990 schien die begriffliche Charakterisierung als "Arbeiteraufstand" oder "Volksaufstand" die Hauptkontroverse zu sein. Dahinter stand mehr als nur ein Streit um Begriffe. Denn die jetzt viel genauer als früher zu belegende Beteiligung der ländlichen Bevölkerung, aber auch der städtischen Mittelschichten bis hin zur Intelligenz legte es nahe, die politische Stoßrichtung gegen das Gesamtsystem viel stärker zu betonen als die sozialen Ursachen des Protests der Arbeiterschaft im Vorfeld des eigentlichen Aufstandstages. Gleichwohl ist die plakative Alternative Arbeiter- oder Volksaufstand falsch. Denn ohne Frage bildeten die Aktionen der Arbeiter den Auslöser, ohne den vermutlich eine DDR-weite Erhebung gar nicht stattgefunden hätte. Andererseits steckte das Potential zu einem Volksaufstand mit politischen Zielen sehr frühzeitig in der Gesamtbewegung, konnte sich aber angesichts der Intervention sowjetischer Panzer kaum noch entfalten. Trotzdem blieben massive Auseinandersetzungen vor allem in den Betrieben, aber auch auf dem Lande weit über den Tag der Niederschlagung des Aufstandes hinaus charakteristisch für die Gesamtlage.

Die in den 50er Jahren kaum reflektierte Redeweise vom "Volksaufstand" ist von der westdeutschen Zeitgeschichtsforschung insofern differenziert worden, daß die tragende Rolle der Arbeiter schärfer herausgearbeitet wurde. Das gewachsene Interesse an der Geschichte der Arbeiterbewegung dürfte dabei ein wichtiges Motiv gewesen sein. Für die verspätete Erforschung des Arbeiterwiderstandes im "Dritten Reich" läßt sich ähnliches konstatieren. Auch ohne Archivzugang wurde aus veröffentlichten Quellen empirisch genau belegt, daß es auch nach dem Ende des Aufstandes noch bis in den Juli hinein zu harten Konflikten in den Betrieben kam, wenn die "Entlarvung der Provokateure" oder soziale Forderungen der Belegschaften auf der Tagesordnung standen. Einen guten Einblick in den weit entwickelten westdeutschen Forschungsstand vermittelt der 1982 von Ilse Spittmann und Karl Wilhelm Fricke herausgegebene Band "17. Juni 1953. Arbeiteraufstand in der DDR"20. Der Band kann als Basis dienen, wenn man danach fragt, unter welchen systematischen Gesichtspunkten sich der 17. Juni in die deutsche Nachkriegsgeschichte einordnen läßt und welche neuen Akzente unser gegenwärtiges Bild vom 17. Juni bestimmen. Alte und neue Forschungsergebnisse gehen dabei ineinander über und viele neue Untersuchungen erweitern und differenzieren lediglich Erkenntnisse und Urteile, die auch ohne Archivquellen möglich waren.

Sechs Dimensionen will ich hier zum Abschluß kurz skizzieren. 1. Die langfristigen Ursachen waren: eine oktroyierte Diktatur, die partielle Sowjetisierung der DDR, vor allem die krisenhafte Verschärfung der Wirtschaftslage, nachdem die SED auf der 2. Parteikonferenz 1952 den forcierten Aufbau des Sozialismus beschlossen hatte und die Kollektivierung der Landwirtschaft begann. Ferner rückte die SED dem Mittelstand steuerpolitisch noch schärfer zu Leibe als zuvor, betrieb und mußte betreiben eine so nicht eingeplante kostspielige Aufrüstung, weitete schließlich den Terror im Zeichen des "verschärften Klassenkampfes" aus, beschleunigte damit die Massenflucht nach Westen und schuf so insgesamt eine Krisensituation, die sich im Frühjahr 1953 zuspitzte. 2. Die Normerhöhung, die zum Auslöser des Aufstandes werden sollte, war rein ökonomisch argumentiert und angesichts des geringen Erfolgs bei der Durchsetzung von technischen Arbeitsnormen (TAN) notwendig, um aus der Misere herauszukommen. Der von der Sowjetunion erzwungene "Neue Kurs" als sichtbarer und spürbarer Ausdruck einer Veränderung und Lockerung des Drucks betraf dann aber ausgerechnet die "führende Klasse" nicht, weil die Normerhöhung bestehen blieb, was geradezu provozierend wirken mußte. Ihre Rücknahme am Nachmittag des 16. Juni kam daher viel zu spät und konnte die Eigendynamik einer Aufstandsbewegung nicht mehr aufhalten. Unstrittig ist, daß der 17. Juni als Arbeiteraufstand begann, wobei die Bauarbeiter der Stalinallee den spektakulären Auftakt machten, obwohl es schon seit dem Frühjahr eine Reihe von kleineren Arbeitsniederlegungen gegeben hatte. Die Schwerpunkte und Höhepunkte der Aufstandsaktionen lagen in den Groß- und Mittelstädten, die Zentren der deutschen Arbeiterbewegung gewesen waren. An diesem frühen historiographischen Befund hat sich nach meinem Eindruck nichts wesentliches geändert. Strittig und wegen regionaler und betrieblicher Besonderheiten auch schwer zu generalisieren, dürfte die Frage der Beteiligung von Partei- und Gewerkschaftsfunktionären an den Aktionen sein. Die umfangreichen späten "Säuberungen" in den Apparaten belegen jedenfalls, daß die Wirkungen der Streiks und Demonstrationen bis in die Funktionärskreise hinein reichten. 3. Zu Recht wird auf Grund neuerer Untersuchungen betont, daß die Landbevölkerung und die Mittelschichten stärker am Aufstand beteiligt waren als früher angenommen. Damit verändert sich das Gesamturteil jedoch nur sehr begrenzt. Denn Auslöser und Hauptträger des Geschehens waren zweifellos Arbeiter. Nicht zuletzt die hohen Zahlen der Verurteilten belegen das. Die jetzt genauer faßbare breitere soziale Basis rechtfertigt aber ohne Zweifel die Charakterisierung als Volksaufstand. Man muß daraus allerdings kein Glaubensbekenntnis machen, auch für andere Aufstände und Revolutionen sind genaue soziale Zurechnungen meist strittig. 4. Einer der Kernpunkte der Debatten um den 17. Juni ist die eindeutige Identifizierung der Ziele und Forderungen. Neuere Arbeiten betonen viel stärker als früher - und greifen insofern wieder auf die ersten zeitgenössischen zurück - die politischen Forderungen der Aufständischen - also Ablösung Ulbrichts, freie Wahlen, Wiedervereinigung. Ich habe große Zweifel, ob Historiker hier jemals zu eindeutigen Ergebnissen kommen können. Denn daß damals Wiedervereinigung noch überall zu den selbstverständlichen Zielen gehörte, ist richtig und im Grunde trivial. Wie stark jedoch soziale oder politische Ziele für die Aufständischen im Vordergrund standen und wieweit die DDR-Bevölkerung mehrheitlich in ihrer politischen Orientierung eher zu Adenauer oder zur SPD-Opposition neigte, scheint mir völlig offen. Aus den Quellen läßt sich relativ beliebig belegen, was man jeweils wünscht, und zu entscheiden ist das kaum. Ohne Zweifel lassen sich die Ziele und Forderungen der Aufständischen nicht auf soziale reduzieren. Daß diese zunächst im Vordergrund standen, aber schnell mit politischen verbunden wurden, ist ebenfalls unstrittig. Ob sich daraus die Kennzeichnung des Aufstands als "gescheiterte Revolution" ableiten läßt, scheint mir gleichwohl zweifelhaft.21 5. Im offiziösen Bild der SED spielte der Westen eine Schlüsselrolle bei der Vorbereitung und Durchführung des Aufstandes. Das ist eindeutig falsch. Seitdem der Rechtfertigungsdruck des Kalten Krieges weggefallen ist, läßt sich aber nüchterner und auch auf breiterer Quellenbasis erfassen, welchen Einfluß "der Westen" (d.h. die Geheimdienste, die Ostbüros oder auch die Bundesregierung) spielten. Daß sie alle eine Rolle spielten, ist kaum überraschend, weil das in den Hoch-Zeiten des Kalten Krieges zum selbstverständlichen Arsenal der Auseinandersetzung gehörte. Im einzelnen hat Bernd Stöver in einer umfangreichen Arbeit die amerikanische "liberation policy" dargestellt, für die natürlich insbesondere Aufstandssituationen eine besondere Faszination entwickelten.22 Hier haben sich mittlerweile viele Bewertungen auch verschoben. Natürlich haben Mitarbeiter des Ostbüros der SPD eine wichtige aktive Rolle im Aufstandsverlauf gespielt, ebenso wie sie in den ganzen 50er Jahren verbotenes Informationsmaterial gegen die SED-Propaganda zu verteilen versucht haben. Das ist Teil einer aktiven Widerstandsbewegung gegen eine Diktatur in oft ähnlichen Formen wie im "Dritten Reich". Der Aufstand selber ist jedoch eine spontane, ungesteuerte und deshalb auch in seinen Formen oft chaotische erscheinende Bewegung gewesen. 6. Eine letzte, besonders schwierig zu beantwortende Frage: Welche langfristigen Wirkungen hat der 17. Juni gehabt? Die internen Quellen belegen, daß sowohl in den Betrieben wie bei den Sicherheitsorganen dieses Thema als traumatische Erfahrung lange Zeit präsent blieb. Auch die bange Frage Erich Mielkes vor Stasioffizieren im August 1989 wird in neueren Publikationen oft zu Recht als Beleg für das lang anhaltende Schockerlebnis zitiert: "Ist es so, daß morgen der 17. Juni ausbricht?" Die gesamte Sozialpolitik der SED ist ohne den Hintergrund des Aufstandes nicht zu verstehen. Gleichwohl bleibt es schwer, genauer zu bestimmen, welchen Stellenwert der Aufstand für jüngere Generationen in der DDR, die keine eigene Erinnerung daran hatten, tatsächlich besaß. Die Befunde aus der oral history sind eher diffus und stimmen skeptisch gegenüber probaten politischen Interpretationen. Ich bin deshalb auch zurückhaltend gegenüber Konstruktionen, die allzu selbstsicher den Herbst 1989 in eine Kontinuitätslinie mit dem Juni 1953 stellen. Das eignet sich zwar für Feierstunden, widerspricht aber wissenschaftlicher Sorgfalt, die auf der Komplexität von Ursachenerforschung und Diskontinuitäten insistieren muß.

Unzweifelhaft hat die neueste Historiographie die zentrale Bedeutung des Aufstandes für die gesamte DDR-Geschichte und die relative Vernachlässigung dieses Datums in der westdeutschen Öffentlichkeit und im Geschichtsbewußtsein - trotz aller Feiertagsreden - in den letzten beiden Jahrzehnten des geteilten Deutschlands herausgearbeitet. Die Forschungen und Veranstaltungen im Jahr 2003 haben das weiter bestätigt. Das Gewicht dieses ersten Massenaufstandes im Ostblock gegen das kommunistische Herrschaftssystem wird sich damit erhöhen und in der Reihe der Krisenjahre kommunistischer Diktaturen in Ostmitteleuropa bis 1989 wird die DDR wohl einen prominenteren Platz einnehmen als früher.

[Quelle: Vortrag auf dem Workshop der Bundeszentrale für politische Bildung und des Zentrums für Zeithistorische Forschung: " ... zum Beispiel 17. Juni 1953 - Die 50er Jahre - Geschichten aus der Geschichte", Potsdam, 12.-14. Februar 2003]

1 Zit. nach Ilko-Sascha Kowalczuk, Die Historiker der DDR und der 17. Juni 1953, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 44 (1993) 11, S. 721.
2 Roy Medwedew u.a. (Hg.), Entstalinisierung: der XX. Parteitag der KPdSU und seine Folgen, Frankfurt/Main 1977, S. 115.
3 Lutz Niethammer/Alexander von Plato/Dorothee Wierling, Die volkseigene Erfahrung. Eine Archäologie des Lebens in der Industrieprovinz der DDR, Berlin 1991.
4 Wolfgang Jacobmeyer, DDR-Geschichte im Hauptschulbuch der Bundesrepublik, in: Arnd Bauerkämper/Martin Sabrow/Bernd Stöver (Hg.), Doppelte Zeitgeschichte. Deutsch-deutsche Beziehungen 1949-1990, Bonn 1998, S. 168-78.
5 Institut für Demoskopie Allensbach (Hg.), Jahrbuch der öffentlichen Meinung 1947-1955, S. 386.
6 Edgar Wolfrum, Geschichtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland, Darmstadt 1999, S. 70.
7 Ebd., S. 95.
8 Ebd., S. 87.
9 Ebd., S. 92.
10 Ebd., S. 204f.
11 Ebd., S. 203f.
12 Matthias Fritton, Die Rhetorik der Deutschlandpolitik. Eine Untersuchung deutschlandpolitischer Rhetorik der Regierungen der Bundesrepublik Deutschland unter besonderer Berücksichtigung von Reden anläßlich des Gedenkens an den 17. Juni 1953, Stuttgart 1998.
13 Gerhard Ritter, Text der Rede in: Das Parlament vom 22. Juni 1955, S. 10.
14 Alexander Gallus, Der 17. Juni im Deutschen Bundestag von 1954-1990, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 43 (1993) B 25, S. 13-15.
15 Karl Dietrich Erdmann, Text der Rede in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, Nr. 104 vom 19. Juni 1965, S. 837.
16 Evangelische Kirche in Deutschland (Hg.), Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn: eine evangelische Denkschrift, Hannover 1965; Peter Bender, Zehn Gründe für die Anerkennung der DDR, Berlin 1968.
17 Gallus, Der 17. Juni im Bundestag, S. 18.
18 Christoph Kleßmann, Der Arbeiteraufstand im Juni 1953. Seine Geschichten und seine Legenden. Vortrag anläßlich der Gedenkveranstaltung des Rates des Stadt Bielefeld am 17. Juni 1986 im Grossen Sitzungssaal des Neuen Rathauses, Bielefeld 1986, S. 12.
19 Gallus, Der 17. Juni im Bundestag, S. 21.
20 Ilse Spittmann/ Karl-Wilhelm Fricke (Hg.), 17. Juni 1953. Arbeiteraufstand in der DDR, Köln 1982.
21 Vgl. Ilko-Sascha Kowalczuk/Armin Mitter/Stefan Wolle (Hg.), Der Tag X - 17. Juni 1953: die "Innere Staatsgründung" der DDR als Ergebnis der Krise 1952/54, Berlin 1995.
22 Bernd Stöver, Die Befreiung vom Kommunismus. Die amerikanische Liberation Policy im Kalten Krieg 1947-1991, Köln/Weimar/Wien 2002.