Zwischen geschichtlicher Wahrheit und "antitotalitärem Konsens": 50 Jahre nach dem 17. Juni 1953

Beitrag von Prof. Dr. sc. Heinz Karl, Kommunistische Plattform der PDS, Mai 2003

Gegenwärtig läuft eine Kampagne zum 50. Jahrestag des 17. Juni 1953. Angeschoben wurde sie im Juni 2002 durch eine Erklärung von "Prominenten": "17. Juni - Orte des Erinnerns". Zu ihren Unterzeichnern gehören die Politiker Marianne Birthler (Bündnis 90/Die Grünen), Richard Schröder (SPD), Günter Nooke (CDU), Thomas Flierl (PDS und damals noch Parteivorstandsmitglied), die Journalisten Maybritt Illner und Günter Jauch, der Entertainer Gunther Emmerlich und der Schauspieler Manfred Krug. Sie mengten den "Volksaufstand" vom 17. Juni 1953 unter die "herausragenden demokratischen Massenbewegungen" der deutschen Geschichte (Birthler), beklagten, daß in Ostdeutschland noch Hunderte öffentliche Orte an Kommunisten und SED-Funktionäre, aber nur drei an den 17. Juni erinnern und forderten, daß zum 50. Jahrestag 2003 Straßen und Plätze in ganz Deutschland nach Akteuren des 17. Juni benannt werden (vgl. Neues Deutschland, 15./16.6.02; Berliner Zeitung, 15./16.6.02; junge Welt, 17.6.02).

Inzwischen sind insgesamt 473 Vorhaben in Sachen "17. Juni" geplant, darunter 35 Gedenkveranstaltungen, 45 Publikationen, 63 Ausstellungen, 44 Tagungen und Konferenzen, 151 Vorträge und Foren, 33 Schülerprojekte und 13 Lehrerfortbildungsmaßnahmen. Während gegen Kultur und Bildung der Rotstift wütet, ist für dieses Großunternehmen ideologischer Indoktrinierung Geld im Überfluß vorhanden, zum Beispiel fast 125.000 Euro allein für Besucherbetreuung in der "Forschungs- und Gedenkstätte Normannenstraße" mit dem thematischen Schwerpunkt "Zum 50. Jahrestag des Aufstandes am 17. Juni 1953: Widerstand, Opposition und Verweigerung in der SED-Diktatur" (vgl. P. Rau: Rentner, ohne Tritt, marsch! Eppelmann-Stiftung probt Aufstandsrevival zum 17. Juni. In: Junge Welt, 15.4.03, S. 12).

Warum feierte die BRD den 17. Juni?

Diese Kampagne ist die konsequente Fortsetzung von 54 Jahren imperialistischer BRD-Politik. Ihre Linienführung knüpft ungebrochen an die 1953 BRD-offiziell verordnete Sicht der Ereignisse an, wie sie in die Klischees "Arbeitererhebung" und "Volksaufstand" gestanzt wurde. Als "Tag der deutschen Einheit" wurde der 17. Juni Nationalfeiertag der BRD - ein Jahr nach der Wiedereinführung des chauvinistischen "Deutschlandliedes" als Nationalhymne der BRD. Die realen Ziele der BRD-Politik gegenüber der DDR, ihrer vorsätzlichen, völkerrechtswidrigen Einmischung in deren innere Angelegenheiten bestanden im Anschluß der DDR an die BRD, in der Überführung ihres Volksvermögens in die Hände des westdeutschen Kapitals und der Wiederherstellung der kapitalistischen Gesellschaftsverhältnisse auf ihrem Territorium - bei grundsätzlicher Negierung des Selbstbestimmungsrechts der Bevölkerung der DDR. Das waren Staatsziele, und sie wurden von der Bundesregierung verfolgt.

Bestimmend für sie war die Grundanschauung, die Carlo Schmid (SPD) - jahrzehntelang einer der führenden Politiker der BRD - bereits im August 1948 (in den Beratungen über die Verfassung eines westdeutschen Separatstaates) prägnant formuliert hatte: Man wolle kein Weststaat sein, sondern "treuhänderisch für das gesamte deutsche Volk ... ein Rumpfdeutschland, das den Anspruch erhebt, Gesamtdeutschland zu repräsentieren, und dessen oberste Organe sich für befugt halten, zum mindesten eine legale Autorität auf dem gesamtdeutschen Staatsgebiet zu besitzen ... Eine Folge wäre, daß man die Bevölkerungsteile Mittel- und Ostdeutschlands als Irredenta anzusehen hätte, deren Heimholung mit allen Mitteln zu betreiben wäre." Wer sich diesem angemaßten gesamtdeutschen Machtanspruch einer westdeutschen Regierung nicht unterwerfe, wäre "als Hochverräter zu behandeln und zu verfolgen" (Verfassungskonvent vom Herrenchiemsee vom 10. bis 23. August 1948. Protokolle der Sitzungen der Unterausschüsse, Unterausschuß I: Grundsatzfragen, Bundesarchiv (Koblenz), Z. 12, Nr. 26, S. 4/5. Zit. nach R. Badstübner: Friedenssicherung und deutsche Frage. Vom Untergang des Reiches bis zur deutschen Zweistaatlichkeit 1943 bis 1949), Berlin 1990, S. 379). Diese unverhüllt aggressive (und terroristische) Grundposition, deren Geist bis heute herrscht und die Basis der politisch-juristischen Abrechnung mit der DDR ist, orientierte auf härteste Konfrontation mit dem erklärten Ziel der Annexion. Sie schloß damit schon vom Ansatz her jedes ernsthafte Streben nach Verständigung und friedlicher Wiedervereinigung aus.

Gemäß diesem politischen Grundkonzept wurde die Einverleibung der DDR in die BRD praktisch vorbereitet. Seit Herbst 1951 befaßten sich sämtliche Bonner Ministerien geradezu hektisch mit konkreten Anschlußplanungen - bis hin zu Personallisten für Ämter im "befreiten" Osten am "Tag X" und dem Beschluß der Bonner Staatssekretäre vom 21. April 1952, nach dem Anschluß der DDR 90 % der Angehörigen des öffentlichen Dienstes zu entlassen (vgl. K.H. Roth, Wirtschaftspolitik als Anschlußplanung: Der Forschungsbeirat für Fragen der Wiedervereinigung Deutschlands und die Forschungsstelle für gesamtdeutsche wirtschaftliche und soziale Fragen (1952-1993). In: Ansichten zur Geschichte der DDR, Bd. IX/X, hrsg. v. L. Elm, D. Keller u. R. Mocek, Berlin 1998, S. 292/293, 306, 309-313, 354/355, 359, 397 u. 400). Bei der Konstituierung des "Forschungsbeirates" am 24. März 1952 in Westberlin erklärte der Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen, Jakob Kaiser, daß es letztlich um "eine Restauration der Zustände vor dem Kriege" (!) gehe. Auch wenn diese "nicht gleich erreicht werden kann", könne "dieser ‚Tag X' rascher" kommen (ebenda, S.394). Bis Herbst 1953 war alles auf diesen "Tag X" ausgerichtet.

Eine regimestabilisierende und verlogene Kampagne

Von diesen entscheidenden Triebkräften und Hintergründen der Ereignisse wird seitens der Betreiber und politischen Nutznießer der Kampagne natürlich nicht die Rede sein. Sie versprechen sich von einer politisch instrumentalisierenden, manipulierenden Beleuchtung der Vorgänge von 1953 vor allem zwei Resultate. Erstens das massenwirksame Festklopfen einer bundesdeutschen Staatsdoktrin: der vom Regime und den Regimeparteien verordneten Totalnegation der DDR einerseits, der demagogischen Weißwäsche und Glorifizierung des BRD-Herrschaftssystems andererseits. Zweitens die Festigung des berüchtigten "antitotalitären Konsenses" der regimetragenden Parteien von CSU bis SPD und Bündnisgrünen sowie die Verstärkung seines Einflusses auf PDS und regimekritische Kräfte. In Berlin kommt als zusätzliches Motiv die Stabilisierung der Regierungskoalition von SPD und PDS hinzu - und zwar auf der Linie der ideologischen Präambel der Koalitionsvereinbarung mit der vorsätzlich einseitigen und damit geschichtsfälschenden Auslassung über "die gewaltsame Niederschlagung des Volksaufstandes in der DDR am 17. Juni 1953" (Präambel der Koalitionsvereinbarung zwischen der SPD Berlin und der PDS Berlin für die Legislaturperiode 2001-2006. In: PDS-Pressedienst, Nr. 2/2002, S. 3). Ihre Verfechter erwarten - und sicher nicht zu Unrecht -, daß die Übernahme der regimeverordneten Sicht, der konformistische, unterwürfige Blick auf die historischen Ereignisse das Durchhalten des Koalitionskurses um jeden Preis - auch den des Verschleißes und der Selbstdemontage der PDS - befördert.

Die regimekonforme Publizistik nutzt bei der Verbreitung ihrer Klischees vor allem die tiefe Widersprüchlichkeit der Ereignisse von 1953 aus. Sie trägt ihr aber nicht Rechnung, sondern negiert sie durch eine extrem einseitige Interpretation, eine krasse Schwarzweißmalerei. Dies wird ihr dadurch außerordentlich erleichtert, daß auch in der Sicht der SED und in der DDR-Geschichtsschreibung diese Widersprüchlichkeit durch die einseitige These vom "faschistischen Putsch" verdrängt wurde.

Dabei hatte die 14. Tagung des ZK der SED (21. Juni 1953) noch Ansätze eines realistischen Herangehens gezeigt. Sie hatte die bisherige Politik als fehlerhaft charakterisiert und deren negative Folgen für die Mißstimmung von Teilen der Bevölkerung der DDR - die sich u.a. in der "Arbeitsniederlegung ehrlicher Bauarbeiter" (Dokumente der SED, Bd. IV, Berlin 1954, S. 438) geäußert habe - verantwortlich gemacht, auch die Mißachtung "berechtigte[r] Forderungen" (ebenda, S. 441), die Erbitterung erzeugt habe, eingeräumt. Jedoch wurde die Ignorierung realer Interessen großer Teile der Bevölkerung nicht in ihrer wirklichen Bedeutung gekennzeichnet, der autoritäre Führungs- und Regierungsstil nicht einmal angesprochen. Das 15. Plenum (Ende Juli 1953) wiederholte zwar die Anerkennung der begangenen Fehler, schob sie aber bei der Einschätzung der Ursachen der Ereignisse auf den letzten Platz - nach den feindlichen Einwirkungen aus dem Westen, der Rolle reaktionärer Kreise und rückständiger Bevölkerungsgruppen in der DDR sowie ideologischer Verwirrung -, obwohl sie doch offenkundig der Anlaß der Ereignisse gewesen waren und die Voraussetzung dafür, daß diese einen Massencharakter annehmen konnten (vgl. ebenda, S. 455/456, 465 u. 467/468). Durch diese Verdrängung der realen Problematik verbaute man sich auch die Möglichkeit, aus den Juni-Ereignissen und ihrer Vorgeschichte die notwendigen grundsätzlichen Schlußfolgerungen für die weitere Entwicklung der DDR zu ziehen.

Es ist nicht möglich, hier auf Ursachen, Ablauf, Folgen und Lehren der Ereignisse vom Juni 1953 im einzelnen einzugehen. Dazu sei ausdrücklich auf die (im Heft 5/03 der "Mitteilungen" abgedruckte) Erklärung des Berliner Alternativen Geschichtsforums zum 50. Jahrestag des 17. Juni 1953 verwiesen, deren Aussagen vom Vf. geteilt werden. Hier kann nur auf einige Aspekte eingegangen werden, die in den Auseinandersetzungen um den 17. Juni 1953 eine Rolle spielen.

Vorausgeschickt sei aber, daß alle Erklärungsversuche, die die 1952/53 sich entwickelnde politische und gesellschaftliche Krisensituation in der DDR, deren Zuspitzung durch grobe taktische und psychologische Fehler der SED-Führung und der Regierung sowie den verständlichen Protest großer Gruppen von Werktätigen ignorieren, ihnen nur untergeordnete Bedeutung beimessen oder sie politisch-moralisch abwerten, am Kern der Sache vorbeigehen. Sie laufen auf eine Wiederholung erwiesenermaßen untauglicher Verdrängungsversuche hinaus. Sie fördern nicht die notwendige Auseinandersetzung mit bürgerlich-reaktionärer, antisozialistischer Geschichtsklitterung, sondern behindern und erschweren sie.

Der "Volksaufstand" ohne Show-Beleuchtung

Zu den geschichtsklitternden Propagandaklischees gehört zuvörderst die Behauptung, es habe sich bei den Vorgängen um den 17. Juni 1953 um einen "Arbeiteraufstand" oder gar "Volksaufstand" (so die Berliner SPD/PDS-Koalitions-Präambel) gehandelt. Dem widerspricht schon allein die begrenzte Zahl der Beteiligten. Arbeitsniederlegungen und Demonstrationen bzw. Ausschreitungen fanden in 373 Orten (von rd. 10.000, davon 215 mit mehr als 10.000 Einwohnern) statt. An den Arbeitsniederlegungen beteiligten sich 496.765 Arbeiter und Angestellte - von 5,5 Millionen, d.h. etwa 9%, an den Demonstrationen 417.750 Personen - von über 15 Millionen Einwohnern im Alter über 14 Jahren, also weniger als 3% (vgl. T. Diedrich: Der 17. Juni 1953 in der DDR. Bewaffnete Gewalt gegen das Volk, Dietz Verlag Berlin (1991), S. 288-293). - Es handelt sich hier um die jeweils höchsten Zahlenangaben; in BRD-Veröffentlichungen, z.B. einer im Auftrage der Bundesregierung erstellten Studie, werden auch erheblich niedrigere Zahlen angegeben (vgl. J.v. Denkmann: der fall erna dorn, (Berlin 2002), S. 4/5).

Zu beachten ist auch, daß in der großen Mehrzahl der Betriebe nicht gestreikt wurde, darunter in solchen Großbetrieben wie der Maxhütte Unterwellenborn, der Großkokerei Lauchhammer, dem Benzinwerk "Otto Grotewohl" in Böhlen, dem Edelstahlwerk Döhlen, dem Kunstfaserwerk "Wilhelm Pieck" und dem Schott-Werk in Jena. Ferner ist zu berücksichtigen, daß in vielen Fällen nur Teile von Betriebskomplexen streikten, z.B. im Eisenhüttenkombinat Ost die Baubetriebe, aber nicht das Hochofenwerk. Schließlich haben auch in streikenden Betrieben vielfach nur Teile der Belegschaft - oft Minderheiten - am Streik, noch weniger an Demonstrationen teilgenommen. Von 15.000 Buna-Beschäftigten demonstrierten 4.000-4.500 nach Merseburg; von der Carbidwerkstatt G 32, dem Streikschwerpunkt in Buna, von 509 Beschäftigten etwa 200. Von den 6.000 Hennigsdorfer Stahlwerkern streikten und demonstrierten 2.000, von 5.000 streikenden Bauarbeitern im EKO nahmen 1000 an der Demonstration nach Fürstenberg teil. Das gleiche zeigte sich am Ausgangspunkt der Streikwelle, der Berliner Stalinallee. Von 600 Bauarbeitern des größten Blocks 40 streikten und demonstrierten 120, von 112 am Heizkraftwerk 20 (vgl. Spurensicherung. Zeitzeugen zum 17. Juni 1953, (Schkeuditz) 1999, S. 76/77, 102, 115, 254-256).

Ohne die Arbeitsniederlegungen und Demonstrationen um den 17. Juni 1953 als gesellschaftliches Krisensymptom und politisches Warnsignal zu unterschätzen - sie repräsentieren das Handeln gesellschaftlicher Minderheiten, die man nicht in eine Mehrheit umdeuten kann. Hier liegt auch einer der Gründe für den raschen und unvermeidlichen Zusammenbruch der Streik- und Demonstrationsbewegung.

"Entwicklungshilfe" aus dem Westen

Wenn sich auch der politisch-psychologische Anlaß und die Erklärung für den Massencharakter der Ereignisse in der innenpolitischen Entwicklung der DDR finden, sind sie doch kein inneres Problem der DDR, sind sie - vor allem hinsichtlich ihres Umfangs und ihrer Form - ohne die massive Einmischung des imperialistischen Westens, besonders der USA, der BRD und der selbsternannten "Frontstadt" West-Berlin nicht zu verstehen. Wie die Bundesregierung den "Tag X" anvisierte und ihn ganz systematisch vorbereitete, wurde bereits dargelegt. Diese Bestrebungen ordneten sich in das strategische Konzept der USA ein, wie es seit 1950 durch die Direktive NSC-68 (Dokumentenreihe Nr. 68 des Nationalen Sicherheitsrates) verbindlich war. Eine ihrer fünf Hauptaufgaben lautete: "Verstärkte Maßnahmen auf dem Gebiet der wirtschaftlichen, politischen und psychologischen Kriegsführung voranzutreiben mit dem Ziel, Unruhe und Widerstand in ausgewählten strategischen Satellitenstaaten zu schüren und zu unterstützen." (Zit. nach B. Greiner: Amerikanische Außenpolitik von Truman bis heute, Köln 1980, S. 285.) Dem diente auch die Arbeit diverser, von US-Dienststellen gesteuerter oder beeinflußter Spionage-, Sabotage- und Terrororganisationen, wie der "Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit", der Ostbüros von SPD und CDU, der Organisation Gehlen, die 1952/53 verstärkt ihre Agentennetze in der DDR auszubauen suchten.

Am sichtbarsten war in den Junitagen 1953 die Einmischung aus dem Westen in Gestalt von Zehntausenden Westberlinern, die über die offene Sektorengrenze nach Ost-Berlin strömten und am Potsdamer Platz, in der Leipziger Straße und auf dem Marx-Engels-Platz den Kundgebungen ihren Stempel aufdrückten - unter ihnen Tausende in funkelnagelneuer Maurer- oder Zimmermannskluft, behängt mit fabrikneuem Handwerkszeug (vgl. Spurensicherung, S. 134, 138, 262/263, 280/281, 323, 337). US-Offiziere in Uniform, in Fahrzeugen mit US-Kennzeichen erteilten ungeniert ihren in Demonstrationszügen mitmarschierenden Verbindungsleuten Anweisungen (vgl. ebenda, S. 149, 300, 303). Weniger sichtbar, aber wirksamer war, daß von westlichen Dienststellen und Organisationen Personen in großer Anzahl nicht nur nach Ost-Berlin, sondern auch in die Bezirke, vor allem die mitteldeutschen, geschickt wurden, um dort Streiks und Krawalle anzuzetteln (vgl. ebenda, S. 42/43, 69, 76, 80, 100/101, 152, 224, 236, 241, 245, 253/254, 257). Wegen Beteiligung an den Ausschreitungen wurden in Berlin 322 Westberliner und 4 BRD-Bürger (das waren 13,7% aller Verhafteten), in den Bezirken 238 Westberliner und 42 BRD-Bürger verhaftet (vgl. T. Diedrich: Der 17. Juni, S. 183 u. 300).

Recht bekannt, vor allem bei Zeitzeugen, ist die Rolle des in West-Berlin stationierten US-Senders RIAS. Er gab die Parolen aus und wirkte damit als eine Art Kommandozentrale. Wie das funktionierte, erläutert der damalige deutsche Chefredakteur des RIAS, Egon Bahr. Bei ihm sei eine Abordnung der Streikenden erschienen, worauf "wir mit ihnen zusammen ihre Forderungen formulierten, fünf oder sechs Punkte aufschrieben und ihnen zusagten, wir würden diese Forderungen des Streikkomitees senden." Und welche "Überraschung" erlebte Egon Bahr? "Überall waren die Forderungen, die wir in meinem Zimmer mit der Streikleitung aus der Stalin-Allee formuliert hatten, und zwar auch in dieser Reihenfolge, übernommen worden ... Der Rias war, ohne es zu wissen ..., zum Katalysator des Aufstandes geworden. Ohne den Rias hätte es den Aufstand so nicht gegeben." (E. Bahr: Zu meiner Zeit. Zit. nach H. Bentzien: Was geschah am 17. Juni? Vorgeschichte - Verlauf - Hintergründe (Berlin 2003), S. 182 u. 184.) Dem ist nichts hinzuzufügen, abgesehen von einer kleinen, aber notwendigen Anmerkung: In der ganzen Stalinallee hat es überhaupt kein "Streikkomitee" bzw. eine "Streikleitung" oder etwas ähnliches gegeben (vgl. Spurensicherung, S. 267/268 u. 288).

Uncle Sam sucht Märtyrer

Das große Interesse an den Vorgängen um den 17. Juni in der DDR, das wohl kaum der Befriedigung purer Neugier und noch viel weniger den Sorgen und Nöten unzufriedener Werktätiger gegolten haben dürfte, führte Mitte Juni urplötzlich Persönlichkeiten nach West-Berlin, die an politischen und militärischen Schaltstellen der USA und der BRD saßen. Am 13. Juni traf Eleanor Dulles ein, Sonderberaterin im State Department und Schwester von Außenminister J.F. Dulles und dem früheren Spionagechef A. Dulles; am 14. Juni der Staatssekretär im Bundeskanzleramt, Lenz; am 15. Juni der bisherige NATO-Oberbefehlshaber in Europa und neue Stabschef der US Army, General Ridgway; am 17. Juni folgten schließlich Bundesminister Jakob Kaiser, sein Staatssekretär Thedieck und der SPD-Vorsitzende Ollenhauer. Alles Zufälle?

Sehr aufschlußreich ist auch der Blickwinkel, unter dem US-amerikanische Führungsgremien die Juni-Ereignisse betrachteten, wie sie diese in die Strategie der USA einordneten, sozusagen ihren politischen "Gebrauchswert" bestimmten. In einem Memorandum des Psychological Strategy Board vom 17. Juni 1953 werden die Möglichkeiten der Ausnutzung und des Anheizens der Situation erörtert. Es wird auf drei in Berlin verletzte Personen verwiesen und daran die Erwägung geknüpft: "Wenn eines dieser Opfer zu einem Todesfall würde, wäre es wichtig, diese Person sofort in der ganzen Welt als Märtyrer hinzustellen." Einem der "psychologischen Strategen" schien "dies der Moment zu sein, um mit der CIA hart zuzuschlagen und verdeckt Schwierigkeiten zu machen" (H. Bentzien: Was geschah am 17. Juni?, S. 186/187).

In einem von Präsident Eisenhower bestätigten Dokument des Nationalen Sicherheitsrates (NSC) vom 26. Juni 1953 "Ziele und Maßnahmen der Vereinigten Staaten zur Ausnutzung der Unruhen in den Satellitenstaaten" wird die Aufgabe gestellt, den "Widerstand ... bis zur Massenrebellion" zu nähren. "Es muß immer so aussehen, als ob er spontan entstanden ist." Als eine der "Maßnahmen" wird die "Eliminierung wichtiger Beamter" ins Auge gefaßt, eine andere ist der Aufbau von "Untergrundorganisationen ..., die auf Weisung im großen Maßstab Überfälle durchführen" (ebenda, S, 189/190).

Terror!

Dies lenkt den Blick auf ein weiteres Wesensmerkmal der Juni-Ereignisse, das gern übersehen oder als belanglose Randerscheinung abgetan oder sogar als menschlich verständliche, spontane Überreaktion hingestellt wird - den Terror. Zunächst ist unbestreitbar, daß von der Volkspolizei und eingesetzten Einheiten der Sowjetarmee keine bewaffnete Gewalt angewendet wurde. Sie hatten strikten Befehl, keinesfalls von der Waffe Gebrauch zu machen. Sie führten ihn aus, selbst wenn sie - z.B. durch steinewerfenden Westberliner Mob - tätlich angegriffen wurden. Für die Bauarbeiterdemonstration von der Stalinallee zum Haus der Ministerien am 16. Juni regelte die VP den Verkehr - obwohl sich zunehmend zweifelhafte Elemente unter die Demonstranten mischten. Eine anschließende Kundgebung vor der SED-Kreisleitung Friedrichshain wurde - obwohl unter feindlichen Parolen - von der VP nicht behindert.

Die ersten feststellbaren Gewaltakte gingen von Streikenden aus - und zwar gegen Kollegen. Wie ein Dreher aus dem SKET Magdeburg berichtet, verlief der Morgen des 17. Juni "normal, bis die mit Knüppeln bewaffneten Gießereiarbeiter den Betrieb stürmten. Sie forderten uns auf, die Maschinen abzustellen und mitzukommen - anderenfalls gebe es Dresche. Anschließend zogen wir durch das Betriebsgelände zum Dimitroffwerk - wo die Arbeiter mit den gleichen Methoden zum Mitmachen veranlaßt wurden" (Spurensicherung, S. 81). Weitere Gewaltakte richteten sich gegen Demonstranten, die sich gegen Vandalismus und Plünderungen wandten (vgl. ebenda, S. 81 u. 83). Randale und Zerstörungen heizten die Stimmung an. Viele Demonstranten, die die Exzesse mißbilligten, sich aber machtlos fühlten, sie zu unterbinden, resignierten und gingen nach Hause, teilweise auch an ihre Arbeitsplätze zurück.

In Berlin wirkten besonders viele Westberliner eskalierend, unter ihnen zahlreiche organisierte Schlägertrupps in Stärke von etwa 30 bis an die 100 Mann, zumindest zum Teil von US-amerikanischen Offizieren aufgestellt und dirigiert. Rekrutiert worden waren sie auf der Straße oder in Flüchtlingslagern, teilweise auch vom "Bund Deutscher Jugend" (BDJ), einer als "Jugendorganisation" getarnten, von US-Geheimdiensten aufgezogenen und ausgebildeten Terrororganisation (vgl. ebenda, S. 301 u. 303).

In einer Reihe von Demonstrationszügen wurde (vermutlich vorsätzlich, in provokatorischer Absicht) gerade zu solchen Gewaltakten - Sturm auf Polizeidienststellen und Haftanstalten, Erbeutung von Dienstwaffen und deren Einsatz gegen die Polizei - aufgewiegelt, die mit Sicherheit zu Blutvergießen führen mußten. So wurden beim Sturm auf die Haftanstalt Magdeburg-Sudenburg drei Volkspolizisten mit erbeuteten Waffen erschossen, einer von ihnen "von den Randalierern ... regelrecht hingerichtet" (ebenda, S. 81/82; vgl. auch S. 89, 93, 111-113). Ähnliches ereignete sich in Halle und einigen anderen Orten. Angesichts der eskalierenden Gewalt ergriffen Sowjetarmee und Volkspolizei schließlich entschiedene Maßnahmen, um die Ausschreitungen zu beenden. Die Verantwortung für die eingetretenen Opfer fällt voll und ganz auf diejenigen, die zu Gewalttaten aufhetzten und sie begingen.

Nazis witterten Morgenluft

Die unzutreffende, der Mehrheit der Streikenden, aber auch der Demonstranten gegenüber ungerechte und beleidigende Charakteristik der von ihnen mitgetragenen Protestbewegung als "faschistischer Putsch" wird sehr häufig als Vorwand benutzt, um das unbestreitbare Auftreten von Nazielementen in der Bewegung und deren Ausnutzung durch diese Kräfte überhaupt in Abrede zu stellen.

Aber dies geht eindeutig an den Tatsachen vorbei. Gesellschaftsschichten und -gruppen, die nach 1945 von den antifaschistischen Säuberungs- und Umgestaltungsmaßnahmen betroffen worden waren, dadurch an Besitz oder sozialem Status eingebüßt hatten, dies in der Regel als ungerecht empfanden (gerade im Vergleich mit der bevorzugten Behandlung der "131er" in der BRD), fühlten sich durch Aktionen gegen Regierung und SED bestätigt. Dies galt besonders für viele - bei weitem nicht alle - ehemalige Mitglieder der Nazipartei und anderer faschistischer Organisationen, Angehörige des faschistischen Repressionsapparates, Beamte, Juristen und Berufssoldaten.

Viele von ihnen hatten im Bauwesen oder im Bergbau eine neue Existenz gefunden. Häufig waren sie gebildeter und gewandter als die Mehrheit der Belegschaft und spielten deshalb eine Wortführerrolle. Eine ähnliche Problematik zeigte sich in früheren Rüstungsbetrieben bzw. solchen, die im Zuge der Aufrüstung Nazideutschlands geschaffen worden waren oder expandiert hatten. So war z.B. das Buna-Werk - ein Schwerpunkt der Streikbewegung im mitteldeutschen Raum - in der Nazizeit mit einer handverlesenen Belegschaft aufgebaut worden. Dazu war ein Sechstel der Betriebsangehörigen nach 1945 aus den faschistischen Organisationen oder dem Staatsapparat ins Werk gekommen. In der Carbidwerkstatt G 32, dem Ausgangspunkt der Streikbewegung in Buna, gehörte dazu jeder Fünfte, fast jeder Zweite war Umsiedler. Entsprechend bestand das Streikkomitee in Buna aus zwei alten Nazis, einem SS-Mann und einem Marineoffizier - mit dem früheren Leiter der SPD-Betriebsgruppe als Feigenblatt (vgl. ebenda, S. 103-105).

Im VEB Bodenbearbeitungsgerätewerk Leipzig bestand die Streikleitung aus ehemaligen Mitgliedern der Nazipartei und Berufssoldaten (vgl. ebenda, S. 51). Sprecher der Streikleitung bei Carl Zeiss Jena war Eckehard Norkus, ein ehemaliger hoher Nazifunktionär (HJ-Bannführer) und naher Verwandter des Nazi-Idols Herbert Norkus (vgl. Wer zog die Drähte? (Berlin) o.J., S. 28). Als der DGB-Vorstand "bekannte Streikführer" auf internationalem Parkett gegen FDGB und DDR ausspielen wollte, platzte dieses Vorhaben, weil alle in Aussicht genommenen Personen SS-Leute, HJ-Führer oder Funktionäre der Nazipartei gewesen waren (vgl. Spurensicherung, S. 341).

Kein zukunftsträchtiges Erbe

Alle diese mit der sozialen Protestbewegung parallel laufenden, sie durchdringenden Elemente - Bewegung einer gesellschaftlichen Minderheit, Verknüpfung mit der Politik und politischen Institutionen der BRD und der USA und teilweise Instrumentalisierung durch diese, abstoßender und die Bewegung zersetzender Terror, ein offensichtlicher Anteil nazistischer (und anderer bürgerlich-reaktionärer) Elemente - machen die innere Schwäche und Perspektivlosigkeit der Aktionen vom 17. Juni 1953 aus. So ist dem konservativen Historiker Arnulf Baring durchaus zuzustimmen, wenn er meint, "der Aufstand ist nicht durch die sowjetischen Truppen niedergeschlagen worden. Aufs Ganze gesehen war die revolutionäre Welle schon gebrochen, bevor die Russen aufmarschierten. ... die Streik- und Demonstrationsbewegung hatte sich ... erschöpft" (A. Baring: Der 17. Juni 1953, Köln/Berlin 1965, S. 157). Die Erschöpfung der Bewegung resultierte aus ihrem zwiespältigen Wesen, in dem die Verfechtung berechtigter Forderungen arbeitender Menschen unlöslich mit der Instrumentalisierung für imperialistische, reaktionäre Politik verbunden war.

Daraus kann man Lehren ziehen (wir haben es zu unserem Schaden nicht bzw. in völlig unzulänglicher Weise getan) - eine progressive (etwa gar demokratisch-sozialistische) Tradition kann man darauf nicht gründen. Die das Ideologie-Geschäft mit dem 17. Juni betreiben, wollen das auch gar nicht.

Sie wollen weiter den antisozialistisch und nationalistisch geprägten Geist des BRD-Nationalfeiertages 17. Juni und den "antitotalitären Konsens" pflegen.

Wo steht die PDS?

Die PDS steht vor einem Dilemma: Soll sie sich als sozialistische, antikapitalistische Partei der seit 50 Jahren bewährten Heuchelei der etablierten Parteien verweigern und der Perfidie Paroli bieten - oder soll sie konsensbeflissen mit den "antitotalitären" Wölfen heulen? Die negativen Vorbelastungen sind allerdings erheblich. Da ist nicht nur die geschichtsfälschende, heuchlerische Berliner Koalitions-Präambel. Da ist auch die unsäglich peinliche Erklärung des Berliner Landesvorsitzenden Stefan Liebich und des damaligen Fraktionsvorsitzenden Harald Wolf zum 17. Juni 2002 (vgl. PDS-Pressedienst, Nr. 25, 21.6.2002, S. 15). Diese Erklärung gleicht den demagogischen Gedenkreden der Etablierten wie ein faules Ei dem anderen. Die tiefe Widersprüchlichkeit der Ereignisse wird in gewollter Einseitigkeit negiert. Hohle Phrasen über soziale Gerechtigkeit, aber kein Wort von imperialistischer Politik, Absichten und Aktivitäten. Hohle Phrasen von demokratischen Grundrechten, aber kein Wort von blutigem reaktionären Terror. Die Verteidigung der DDR, die im Gegensatz zur BRD kein Staat der Reichen gegen die weniger Bemittelten war, die die Menschen vor Arbeitslosigkeit und Obdachlosigkeit schützte, der Jugend eine Perspektive bot, den Massen den Zugang zu Bildung und Kultur sicherte, eine Politik des Friedens betrieb, wird als "illegitim" verurteilt. Diese Erklärung bietet eine komplette Übernahme der Positionen des BRD-Regimes und der etablierten Parteien, der Klischees der Kalten Krieger. Sie ist ein Musterbeispiel politisch motivierter Geschichtsfälschung.

Und da ist die Tatsache, daß die PDS-Vertreter, voran Senator Dr. Thomas Flierl, sich bei der Debatte zum 50. Jahrestag des 17. Juni im Kulturausschuß des Abgeordnetenhauses im Gleichschritt nicht nur mit dem Koalitionspartner SPD, sondern auch mit der CDU bewegten (vgl. A. Schröter: Senat hat mit dem 17. Juni was am Hut. In: Neues Deutschland, 18.2.03). Die PDS, besonders ihre Führungsgremien, wären gut beraten, sich ernsthaft darüber Gedanken zu machen, daß auf den 17. Juni 2002, zu dem sich das Duo Liebich/Wolf so ärgerlich produzierte, ein 22. September folgte.

Neuerliche politische Nackttänze von PDS-SpitzenpolitikerInnen (oder gar Vorstandsgremien) um den 17. Juni 2003 würden die Hoffnungen auf eine selbstbestimmte Politik der PDS weiter schwinden lassen, innerhalb der PDS demotivierend und zersetzend wirken und die Chancen der PDS bei künftigen Wahlen kaum günstiger gestalten, wohl eher ernsthaft beeinträchtigen. Wer die PDS erhalten und stabilisieren will, muß mit Nachdruck darauf dringen, daß sie im Zusammenhang mit der Kampagne zum 17. Juni 2003 sich nicht mit den etablierten Parteien gemein macht und dabei bis zur Unkenntlichkeit verbiegt, sondern ein eigenes, unverwechselbares Profil zeigt.

[Quelle: Mitteilungen der Kommunistischen Plattform, Mai 2003.]