Heiner Studt
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Mein 17. Juni in Jena von Heiner Studt, geschrieben in Hamburg, 5.1.2003

Die Geschehnisse des 17. Juni 1953 begannen für mich, einen Jungen von 10 3/4 Jahren, auf der Straße vor unserer Wohnung in der Leo-Sachse-Straße 30. Es war ein schöner Sommertag, und ich war nach draußen gegangen, um einen Spielkameraden zu finden. Es muss wohl ein Ferientag oder der letzte Schultag gewesen sein. Meine Eltern waren nicht zu Hause, sondern in ihrem kleinen Laden in der Wagnergasse. Dort hatte mein (Stief-)Vater, in Abwandlung seines Nachnamens Hölzel "Hölzlein" genannt, in der zweiten Werkstatt von Carl Zeiß seine eigene erste Werkstatt als selbständiger Handweber, während meine Mutter nach einem Jahr als Referendarin und Klassenlehrerin in der Grundschule in Jena-Ost ab jetzt bei ihm mithalf. Ein kleiner Junge aus der Nachbarschaft bot sich zum Spielen an. Ich hatte meinen Roller dabei. Doch da sagte er etwas, das mich sofort elektrisierte: "Weißt du was? In der Stadt wird gestreikt." Ich raste mit meinem Roller los, aus dem beschaulichen Kernberg-Viertel hinunter in die Stadt. Noch vor der Paradiesbrücke brach das Scharnier meines Rollers, und ich musste mit beiden Teilstücken unterm Arm zu Fuß weiter rennen. Ich wollte unbedingt sehen, was in der Stadt los war, und hatte nur ein Ziel: schnell die Rollerteile in der Werkstatt meiner Eltern abgeben und dann alles ansehen. In der Nähe des Johannistors, wo damals ein Gerichtsgebäude stand, traf ich einen Demonstrationszug, sehr ruhig und wohlgeordnet. Mir fielen die Menschen in ihren weißen Arbeitskitteln auf. Waren es Ärzte oder Techniker? Ich konnte es nicht entscheiden.

In der Werkstatt in der Wagnergasse angelangt, traf ich beide, "Hölzlein" und meine Mutter, an. Sie war in heller Aufregung, geradezu in Hysterie. Sie redete, ja schrie auf mich ein: "Dies ist ein historischer Tag! Dies ist ein historischer Tag, mein Kind! Merke dir diesen Tag! Komm mit, ich zeig dir das Gefängnis!" Dass dies ein besonderer Tag sei, war mir klar. Nicht von ungefähr bin ich ja in die Stadt gerast und habe dabei meinen Roller zuschanden gefahren. Und die Aufgeregtheit meiner Mutter war mir eher unangenehm. Aber ich folgte ihr zum Gefängnis und sah, wie aus diesem, von einer großen Menschenmenge umringt, auf den Schultern kräftiger Männer Gefangene heraus- und in Richtung Uni-Krankenhäuser getragen wurden. Ich sah auch die Liliputanerin, bei deren Anblick ein Empörungsgeheul durch die Menschenmasse ging, weil man sie - wie auch ich - für ein Kind hielt. "Die sperren sogar Kinder ein!" Dem Gefängnis gegenüber befand sich ein Lazarett für russische Soldaten. Am Bretterzaun standen die russischen Patienten in ihren Pyjamas und spendeten der Menschenmenge Beifall. Das Gefängnistor war aufgebrochen, und im Hof sah ich glimmende Scheiterhaufen: Da wurden die Akten verbrannt. Auf dem Straßenpflaster lag ein umgestürztes Polizeiauto, eines von der Art "Überfallkommando", wie man es aus alten Filmen kennt. Polizeiuniformen hingen an den Verkehrsschildern. Offenbar war hier vor einigen Minuten etwas Dramatisches passiert, das ich leider verpasst habe.

Ich wollte alles sehen, was in Jena los war, machte mich von meiner Mutter los und lief zur Bachstraße. Vor dem Gewerkschaftshaus lagen Unmengen von Papier. Dort traf ich einen Schulkameraden, der mir stolz seine Sammlung von Passbildern und von Briefmarken zeigte, die er aus den Papierhaufen gewonnen hatte. Ich entschied mich, auch meinerseits die Gunst der Stunde zu nutzen und meine Briefmarkensammlung zu erweitern. Leider fand ich nur wenige Sondermarken, sondern meist nur die gewöhnlichen 12- und 24-Pfennigmarken, steckte sie aber dennoch in meine Hosentasche. Auf dem Holzmarkt - es war wohl ungefähr 11 Uhr 30 - traf ich eine große Menschenmenge an. In den Räumen der SED-Kreisleitung, die sich in dem mondänen Gebäude des Palasttheaters, eines Kinos, befand, waren junge Burschen an der Arbeit. Die einen warfen Broschüren, Bücher, Bilder, Akten auf die Straße, andere waren damit beschäftigt, die große Leuchtreklame "SED" mit Hämmern zu zertrümmern. Ein Plakat hing am Haus, irgendetwas mit deutscher Einheit. (Wie ich kürzlich von einem meiner ehemaligen Lehrer an der Johannes-R.-Becher-Schule, Achim Heidemann - er lebt heute in Jena - , erfuhr, war er es, der dafür gesorgt hatte, dass ein parteikonformes Transparent nicht abgerissen, sondern halbiert wurde, so dass etwas "Richtiges" darauf stand.) Ich sah einen Lastwagen mit russischen Soldaten, eingekeilt ins Volk, sie verhielten sich ruhig, und man tat ihnen nichts. Um einen besseren Überblick zu erhalten, kletterte ich auf einen Leitungsmast, doch ein Demonstrant machte mir klar, dass ich da schleunigst herunterzukommen habe. Wo kämen wir da hin, wenn Kinder einfach auf Masten klettern, nur weil gerade mal ein Volksaufstand stattfindet! Die Menge sang die alte verbotene Nationalhymne, erste Strophe: "Deutschland, Deutschland über alles..." Die Russen grinsten.

Ein paar Meter weiter im Löbdergraben (Thälmannring) stand eine weitere, kleinere Menschenmenge im Halbkreis um ein Haus, aus dessen Fenstern junge Männer Gegenstände und Papierkram warfen. Einer stand im Fenster, hielt ein Stalinbild hoch und schrie: "Seht ihn euch an!" Dann warf er es auf die Straße, das Glas splitterte. Braune Bände, die Werke von Stalin und Lenin, wurden nach draußen gekippt. Ein Schlauberger, der offenbar nicht an den dauerhaften Erfolg des Aufstands glauben wollte, schnallte sich einige der heruntergeworfenen Exemplare auf den Gepäckträger seines Fahrrads und transportierte seine Beute von dannen. Eine Frau mit trotzigem Blick hielt eine rote oder blaue Stoffbahn - wohl der Rest eines heruntergeworfenen Transparents - vor ihren Leib: offenbar eine linientreue kommunistische Demonstration. Ich glaube, es wurde mit ihr geschimpft, aber man tat ihr nichts an.

Gewalt gegen Menschen beobachtete ich nur ein einziges Mal, aber da wurde sofort eingegriffen: Am Brunnen in der Oberlauengasse versuchte jemand, einen Mann mit dem Kopf unters Wasser zu drücken. Wollte er ihn ertränken? Wie auch immer: Er kam nicht dazu, weil Passanten dazwischen gingen und er sein Opfer laufen lassen musste. Welch ein Hass muss sich da entladen haben!

Als ich zum Gefängnis zurückgekehrt war, gab es da keine Menschenmenge mehr. Aber das Tor war immer noch offen. Zwei Aschehaufen glommen im Hof vor sich hin. Ein Arbeiter nahm mich an der Hand und sagte: "Komm, mein Junge, ich will dir mal was zeigen." Und dann ging er mit mir in das Gefängnis hinein. Wir sahen uns die Zellen an. Im Keller deutete er auf einen waagerecht etwa 20 cm über dem Boden verlaufenden Streifen an der Wand und sagte: "Bis dahin haben sie Wasser in die Zelle gelassen." Die Gefangenen mussten demnach im kalten Wasser stehen. Ob das wohl stimmte? Oder ob die Spur an der Wand eine andere Ursache hatte?

Ich spürte das undeutliche Gefühl, dass ich ein Zaungast der Geschehnisse war, aber nichts zu ihrem Verlauf beitrug. Eine Losung, die ich an eine Wand geschrieben fand, gefiel mir: "HO ist KO". Ich suchte einen malbaren Stein und schrieb an eine andere Wand "HO ist KO". Aber ich ging dabei keineswegs mutig vor; denn ich hatte Angst, dass mich einer von "denen" sehen und dass es mir später zum Schaden gereichen könnte. Ich schrieb die Losung mit der Hand hinter meinem Rücken. Auch ich war wohl noch nicht vom Sieg des Aufstands überzeugt.

Ich fand mich in wechselnden Kinderhorden wieder. Die anderen kamen mir relativ unpolitisch vor, sie betrachteten alles als ein lustiges Spektakel, während mir schon ernster zumute war; denn ich hatte ja eine Vorgeschichte erlebt:

Unsere Hauswirtin in der Leo-Sachse-Straße 30 hieß Lisa Müller. Sie war von ihrem Mann, einem Architekten, geschieden, hatte drei Söhne, von denen der jüngste Henning - damals ein Jugendlicher von vielleicht 17 Jahren - bei ihr lebte. Ihre Villa wurde noch von einigen Studenten und unserer kleinen Familie bewohnt. Wir hatten die Dachwohnung. Es war ein offenes Haus mit viel Geselligkeit. Lisa Müller war eine sehr aparte Frau. Man sagte, sie sei die uneheliche Tochter des berühmten Kinderarztes Professor Ibrahim, eines in Jena lebenden Ägypters. Ihr Verehrer Gerhard P., 20 Jahre jünger als sie selbst und früher Untermieter bei ihr, als er noch in Jena Landwirtschaft studiert hatte, kam oft zu Besuch. Und so war es auch am 16. Juni. Er brachte Nachrichten aus Berlin mit, wo die Bauarbeiter der Stalinallee streikten. Er erzählte uns in Lisa Müllers Küche die sensationellen Neuigkeiten. Allerdings: Frau Müller war nicht dabei; denn sie befand sich seit mehreren Wochen im Untersuchungsgefängnis. Was ihr vorgeworfen wurde, war nicht bekannt. Auch der Rechtsanwalt, den Henning konsultiert hatte, konnte nichts in Erfahrung bringen. Offenbar ging es um einen Angriff auf die Kapitalistenklasse; denn Lisa Müller war ja Hausbesitzerin. Vor unserem Haus auf der gegenüberliegenden Straßenseite sah ich manchmal, wenn ich aus dem Fenster unserer Mansarde lugte, ein oder zwei Männer in schwarzen Ledermänteln, die das Haus beschatteten. Es herrschte seit einigen Wochen eine beklemmende Atmosphäre bei uns. In mir wuchs der ohnehin schon vorhandene Hass auf den Staat, und in mir wuchsen revolutionäre Phantasien heran.

Insofern war meine Enttäuschung schon recht groß, als ich sehen musste, dass am Nachmittag des 17. Juni sowjetische Soldaten in die Stadt einrückten. Sie besetzten etwa ab 14 Uhr die Zeiß-Werke. Da standen Maschinenpistolen bewehrte Wachtposten wie die Zinnsoldaten am Tor. Tat denn keiner was dagegen? Doch: Am Holzmarkt schoben Frauen einen Straßenbahnwagen Richtung Neugasse. Etwa vor der Gaststätte Roter Hirsch fuhr dann ein Panzer auf ihn, zerdrückte ihn zur Hälfte und musste umkehren. Aber ich merkte schnell, dass das ein hilfloser Versuch gegen eine Übermacht war. Über das von Weltkriegstrümmern leer geräumte Feld in der Stadtmitte, den späteren "Platz der Kosmonauten", schritten russische Soldaten mit zum Himmel gerichteten Karabinern und schossen in die Luft. Sie trieben uns Kinder wie alle anderen Ansammlungen von Menschen auseinander. Wir Kinder merkten schnell, dass sie offenbar nicht scharf schießen durften, und rotteten uns immer wieder vor ihnen zusammen und ließen uns wie einen Spatzenschwarm auseinanderjagen.

Nach 17 Uhr begann sich die Stadt zu beruhigen. Da traf mich das mit meinen Eltern befreundete Ehepaar Schreiber am Holzmarkt und stellte mich. Voller Entsetzen betrachteten sie mich: "Was machst du denn hier in der Stadt, Heiner? Du musst schnell nach Hause gehen. Deine Eltern machen sich bestimmt große Sorgen." Daran hatte ich an diesem "historischen Tag" gar nicht gedacht. Aber Recht hatten sie. Ich eilte nach Hause, mit schlechtem Gewissen und gefasst auf eine ordentliche Abreibung durch meine Mutter. Doch nichts dergleichen. In Lisa Müllers Küche saßen sie alle zusammen und waren euphorisch. Mein Erscheinen erregte keinerlei Aufsehen. Ich erfuhr, dass Hölzlein daran beteiligt war, Lisa Müller aus dem Gefängnis zu holen, und dass sich Frau Müller jetzt im Krankenhaus befände, wo man sie gesund pflegen würde. Sie habe während ihrer gesamten Untersuchungshaft keines der von Henning gebrachten Pakete erhalten, sie habe ihre Wäsche nicht wechseln dürfen und sehe überhaupt wie ein Wrack aus, aber sie sei frei. Es wurde noch viel politisiert an diesem Abend, über die bevorstehende Einheit spekuliert. Ich wurde zu meinen Großeltern in der Dreßlerstraße geschickt und sank zufrieden und voller Hoffnung, was den nächsten Tag beträfe, ins Bett. Denn eines schien mir klar: Morgen geht's weiter mit dem Aufstand.

Kurze Nachgeschichte

Der 18. Juni war deprimierend. Meine Eltern hatten Nachricht vom Krankenhaus bekommen, dass alle befreiten Gefangenen wieder abgeliefert werden müssten. Sie holten Lisa Müller dort ab, brachten sie zu Freunden. Sie stellten leichtes Gepäck zusammen und gingen mit mir, nachdem mich Bekannte bei Omi und Opa abgeholt hatten, am Vormittag zum Paradiesbahnhof. An den Litfasssäulen prangten die schrecklichen Plakate der sowjetischen Kommandantur "Ausnahmezustand". In den Straßen herrschte Ruhe. Offenbar ging der Aufstand nicht, wie von mir erhofft, weiter. Von meinen Eltern erfuhr ich, dass zwei so genannte Rädelsführer standrechtlich erschossen worden waren. Und wir versuchten nun, uns selbst in Sicherheit zu bringen, indem wir ins 40 km entfernte Rudolstadt zu unseren Verwandten, Familie Taubert in der Weinbergstraße, reisten, um dort abzuwarten; denn wer weiß, vielleicht würde Hölzlein wegen seiner Beteiligung an der Erstürmung des Untersuchungsgefängnisses und der Befreiung unserer Hauswirtin ja gesucht und verhaftet werden.

Nach einigen Tagen in Rudolstadt sondierten meine Eltern ohne mich die Lage in Jena. Es stellte sich heraus, dass niemand nach ihnen gefragt hatte. Hölzlein war also nicht angezeigt worden. Umso überraschender war seine nächtliche Festnahme. Wie sich meine Eltern im Nachhinein klar machten, waren sie auf ihren Wegen in Jena von Angehörigen der Arbeiter-und-Bauern-Fakultät, die aus dem Fenster geschaut und sehr auffällig zu ihnen geblickt hatten, entdeckt und gemeldet worden. Meine auffällig gekleidete und geschminkte Mutter hatte die neugierigen Blicke auf sich bezogen. Als Hölzlein nach ca. drei Wochen wieder aus der Haft entlassen wurde, war das ein großes Glück. Möglicherweise hatte ihm der telefonische Rückruf eines Vernehmers bei seinem Schwager Kurt Roth, der in der Jenaer SED eine wichtige Funktion innehatte, davor bewahrt, für Jahre im Zuchthaus zu verschwinden. Aber das ist nie aufgeklärt worden.

Zu den Vorgängen in der Haft kann meine Mutter Genaueres erzählen. (Anmerkung: Mein Vater ist am 8. Mai 2003 verstorben.) Für mich jedenfalls waren die Wochen von Hölzleins Haft eine bedrückende Zeit. Auch der Anblick der einst so attraktiven Lisa Müller, unserer inzwischen aus dem Krankenhaus zurückgekehrten Hauswirtin, war erschreckend. Abgemagert und verwahrlost sah sie aus. Sie wurde übrigens nicht erneut verhaftet. Im Gegenteil: Der Staat entschuldigte sich bei ihr für das Versehen und bot ihr eine kostenlose Kur an, die sie aber ausschlug. Sie verstand es, auch ohne diese großzügige Unterstützung allmählich zu ihrer gewohnten Ansehnlichkeit zurückzufinden.

Ich erinnere mich noch an ein Radio-Hörspiel, das vom "Neuen Kurs" handelte und Fehler auf staatlicher Seite eingestand. Unmittelbar nach den Ereignissen des 17. Juni war wohl die Kennzeichnung derselben als faschistischer Putsch noch nicht gefestigt. Mich begleitete die Erinnerung an den Aufstandsversuch des 17. Juni während meiner gesamten Kindheit und Jugendzeit. Ich war durch diese Erfahrung geprägt und für diesen Staat verloren. Als 18-jähriger verließ ich ihn: genau zwei Monate vor dem nächsten einschneidenden Ereignis, dem Bau der Mauer.