Die Volkserhebung an der Oder-Neiße-Grenze in Görlitz am 17.6.1953

Originalbericht

Görlitz, jüngste Großstadt der Ostzone mit 110.000 Einwohnern, die Stadt an der Friedensgrenze, die Stadt, in der Grotewohl und Dertinger ihre Namen unter einen Vertrag setzten, durch den die Ostgebiete an Polen abgetreten wurden.

Görlitz, die deutsche Grenzstadt am Rande Asiens, deren Mauern die größte Waggonfabrik und das größte HO-Kaufhaus der Ostzone bergen.

Diese Stadt war am 17. Juni 53 im offenen Aufstand, in einem Aufstand, der an Geschlossenheit und verhältnismäßiger Größe der Erhebung von keiner anderen Stadt der Zone übertroffen wird.

Wie hat diese Stadt den 17. Juni erlebt?

7 Uhr früh:

In dem VEB LOWA Werk II, Waggonfabrik, Christoph-Lüder-Straße (Belegschaft ca. 6.000 Mann) hat eben die Frühschicht begonnen. In Halle 2 wird über die Vorgänge in der Stalinallee diskutiert. "Was die Maurer in Berlin können, das können wir auch" ruft ein Arbeiter über seinen Werktisch hinweg den anderen zu. "Klar", meint ein Kollege, "gehen wir doch alle raus auf den Hof und halten wir eine Protestversammlung ab". Dieser Vorschlag wird unter Beifall angenommen. Alle verlassen ihre Arbeitsplätze und strömen hinaus auf den Hof. Die Nachbarhalle schließt sich an. Bald ruht die Arbeit im gesamten Werk, der Hof wird zu eng, der Werkschutz wird beiseite gedrängt, die Tore fliegen auf, der Marsch durch die Stadt, der Marsch in die Freiheit beginnt.

8 Uhr:

2 - 3.000 LOWA-Arbeiter ziehen zum Werk I der VEB LOWA in der Brunnenstraße. Die dortigen Arbeiter - ca. 4.000 - schließen sich an. Vereint geht es weiter zum VEB Fein-Optik (früher Meyer) - Belegschaft ca. 250 Mann - auf der Fichtestraße. Hintereinander folgen: VEB Maschinenbau (EKM) - ca. 3.000 Mann Belegschaft -, VEB Kems Maschinenbau (früher Raupsch) - ca. 2.000 Mann Belegschaft -, Mattke & Sydow, Süßwarenfabrik -Belegschaft ca. 400 Mann -. Im letzteren Betrieb wird der dortige Treuhänder und frühere 2. Bürgermeister, der Volkskammerabgeordnete Sommer, LDP, von der wütenden Menge erwischt und verprügelt.

9.30 Uhr:

Langsam nähert sich der Zug dem Bahnhof und schwenkt in die Berliner Straße, der Hauptstraße von Görlitz, ein. Nun sind es bereits 12 - 15.000, die da Schulter an Schulter im langsamen Schritt der Stadtmitte sich nähern. Voran die Schlosser und Schweißer der LOWA, in ihren Werksanzügen, die Gesichter schweißverklebt, in Reihen zu zwanzig und mehr.

Sprechchöre ertönen: "Wir wollen freie und geheime Wahlen", "Senkt die Normen". und eine Weile später: "Gebt die politischen Gefangenen frei", und schließlich: "Wir wollen frei und keine Sklaven sein".

Wie gebannt steht zunächst die Bevölkerung auf den Bürgersteigen, in den Türen der Geschäfte, stürzt zu den Fenstern - und dann begreifen sie, das ist die Stunde, auf die sie alle 8 Jahre lang gewartet haben, das ist die Stunde der Befreiung! Ein Jubel der Begeisterung bricht an. Nun gibt es kein Halten mehr, alles eilt auf die Straße und schließt sich dem Zuge an. Die Rollos der Fenster rattern herab, Gewerbetreibende und Handwerker verlassen ihre Geschäfte, die gesamte Stadt ist im Aufbruch. Da marschieren sie gemeinsam Schulter an Schulter: die Schlosser der LOWA neben dem kleinen Gewerbetreibenden, der Arzt neben dem Koch aus dem HO-Hotel, der Angestellte neben dem Handwerker, die Verkäuferin neben dem Rechtsanwalt. Ein nie vorher gekanntes Gefühl der Gemeinsamkeit, der Solidarität hat alle ergriffen. Alle spüren, unseren Marsch kann keiner mehr aufhalten. Das ist der Anbruch der neuen Zeit für die Ostzone.

Das große HO-Kaufhaus am Domianiplatz taucht auf. Rufe ertönen: "Rauskommen! Mitmachen!" Die Verkäuferinnen zögern, fürchten für ihre Waren auf den Ladentischen vor ihnen. Da werden die ersten hinter ihren Verkaufstischen hervorgeholt, und nun gibt es auch für die anderen Verkäuferinnen kein Halten mehr; sie rechnen schnell ab, schaffen die Kassen in das oberste Stockwerk und reihen sich in den Demonstrationszug ein. Während dieser Zeit wird auch nicht eine Scheibe von den 20 großen Schaufensterscheiben eingeschlagen oder irgend etwas geplündert.

9,45 Uhr:

Der Zug erreicht den Obermarkt, zieht die Fleischerstraße hinunter zu den Tuchfabriken. (Belegschaft: VEB Volltuch ca. 400 Mann - VEB Feintuch ca. 300 Mann). Auch diese Werke schließen sich an.

10,30 Uhr:

Teile des Zuges haben den Untermarkt erreicht. In dem mittleren Gebäude ist eine getarnte Zweigstelle des Innenministeriums, die als Wehrbezirkskommando gilt, untergebracht. Kasernierte Vopo hat sich dort hinter die verschlossenen Türen zurückgezogen. Die Menge vermutet in ihrem Schutz den Oberbürgermeister Ehrlich, SED, einen Mann, gegen den sich in dieser Stunde der Haß und die Empörung der Bevölkerung richtet. Einige junge Arbeiter klettern an der Fassade hoch, eine Scheibe im ersten Stock wird eingedrückt und durch die so geschaffenen Öffnung Verhandlungen mit den Vopos im Innern aufgenommen. Ehrlich soll ausgeliefert werden. Nach einiger Zeit erscheint der Kopf eines Arbeiters am Fenster. Er teilt der Menge mit, daß der Oberbürgermeister das Stadtgebiet von Görlitz bereits verlassen habe. Die Bevölkerung antwortet mit Johlen und Pfeifen.

Die Empörung richtet sich jetzt gegen das Rathaus. Das Amtzimmer von Ehrlich im ersten Stock des alten historischen Rathausgebäudes wird gestürmt. Man räumt den Schreibtisch ab, Akten, Verfügungen, Schriftstücke usw. flattern wie ein weißer Regen durch die Fenster auf den Marktplatz. Die Menge klatscht Beifall. Dann kommen Bilder von Pieck, Grotewohl und Ulbricht im hohen Bogen durch die Fenster geflogen. Die Rahmen zersplittern auf dem Pflaster und die Größen der SED enden unter den Stiefeln und Fußtritten der Menge.

10,45 Uhr:

Neben dem Rathaus liegt der alte Schönhof. Dort befinden sich Räume der FDJ. Ein junges Mädchen mit blauer FDJ-Bluse klettert an der Fassade hoch, schlägt im ersten Stock ein Fenster ein, verschwindet im Innern und öffnet die Türen, so daß eine große Anzahl von weiteren Angehörigen der FDJ in das Gebäude eindringen kann. Sie räumen gründlich auf. Büsten der Großen der SED, Bücher, Zeitschriften, Propaganda-Material, Transparente, Wandtafeln und Fahnen werden durch die Fenster auf die Straße geworfen. Eine Gruppe Arbeiter beobachtet schweigend diese Vorgänge, bis sich schließlich ein älterer Arbeiter zu den anderen wendet und sagt: "Da sieh' mal, Paul, das ist nun ihre Jugend, die sie sich erzogen haben"!

11,00 Uhr:

Vom Untermarkt und von den anderen Teilen der Stadt strömen die Demonstrationszüge immer mehr auf dem Obermarkt zusammen. Die Lautsprecheranlage des Stadtrundfunks wird in einem Wandkasten, der sich am Finanzamt befindet, entdeckt, geöffnet und kundige Hände beginnen Kabel zu legen und die Anlage anzuschließen.

Jemand schreit aus der Menge:" Befreit die politischen Gefangenen im Rathaus-Gefängnis"! Tosender Beifall und eine Woge von Menschen brandet nach der nahegelegenen Rathausstraße. In diesem Untersuchungsgefängnis befinden sich etwa 110 Untersuchungshäftlinge. Meistens sind es Landwirte und Bauern, die angeblich ihr Soll nicht erfüllt haben, sowie Gewerbetreibende, die man wegen Steuerrückständen u.a. sogenannten Wirtschaftsvergehen inhaftiert hat. Die Wachmannschaft leistet nur geringen Widerstand. Sie weigert sich jedoch zuerst, die Zellen aufzuschließen. Aber da sind schon die Schweißer der LOWA. Wir aus dem Boden gestampft stehen sie da, die großen Schutzbrillen vor den Augen und die Schneidbrenner in der Hand. Da geben selbst eiserne Zellentüren ihren Widerstand auf. Jetzt bequemen sich auch die Vopos, die restlichen Zellen freiwillig aufzuschließen. Es gelingt, einem Teil der Häftlinge, ihre Personalausweise auszuhändigen.

Mitten in dieser Befreiungsaktion rollt das Überfallkommando - ca. 20 Mann - an. Sie werden mit Geschrei und Johlen empfangen. Ein Sprecher, der Architekt Kamenz aus Görlitz, tritt hervor und macht den Vopos klar, daß jedes gewaltsame Eingreifen zwecklos sei; die Vopos sollen absteigen, ihre Koppel mit den Pistolen abschnallen und nach Hause gehen, dann würde ihnen nichts passieren. Die Vopos zögern. Die Menge umgibt sie wie eine schwarze dichte Mauer und rückt drohend näher. Da kapitulieren auch die Vopos. Sie schnallen ihre Koppel ab, klettern vom Wagen und verschwinden einzeln in der Menge. Ein Arbeiter der LOWA setzt sich an das Steuer des Überfallwagens und fährt diesen weg.

11,30 Uhr:

Inzwischen wächst die Menge auf dem Obermarkt von Minute zu Minute. Rund 20.000 Menschen mögen es sein, die nun das weite Rechteck des Platzes füllen. Überall haben sich kleine Gruppen gebildet, in deren Mitte einzelne Redner zu der Menge sprechen.

12,00 Uhr:

Die Lautsprecheranlage des Stadtfunks ist im Gange. Die ersten Redner stehen vor dem Mikrophon und werden nun von 20.000 Menschen gehört. Noch ist die Übertragung schlecht, manchmal sind nur einzelne Worte zu verstehen. In bunter Folge sprechen hintereinander: Arbeiter der LOWA und anderer Betriebe, Handwerker, ein Gastwirt (Dylle), ein Architekt (Kamenz), der Angestellte Wagner von der Stadtverwaltung und immer wieder Arbeiter, insbesondere der Arbeiter Bartsch von VEB Fein-Optik, Görlitz , und der Arbeiter Gierich von VEB LOWA, Görlitz. Die meisten von ihnen haben noch nie in ihrem Leben vor einem Mikrophon gestanden. Die Begeisterung und das Erleben der Stunde läßt sie alle Hemmungen vergessen; sie treten vor Tausende hin und sprechen. Oft sind es nur wenige Sätze. Sie reden von dem, was sie im Augenblick bewegt. Der Arbeiter Bartsch ruft: "Kollegen, das ist der schönste Augenblick meines Lebens, 8 Jahre lang haben sie uns belogen und betrogen. Nun ist Schluß! Die SED hat abgewirtschaftet, sie soll zurücktreten, nieder mit der SED!" Jubelnde Zustimmung und Händeklatschen antworten. Sprechchöre bilden sich: "Weg mit der Oder-Neiße-Grenze! Rußki go home!" - Tosender Beifall. Der Architekt Kamenz spricht: "Wir wollen jetzt nicht von den Fehlern sprechen, die in der Vergangenheit gemacht wurden. Diejenigen, die daran schuld sind, werden vor ordentlichen Gerichten zur Verantwortung gezogen. Wir wollen in die Zukunft blicken und alle zusammenstehen und es besser machen." Großer Beifall.

In der Gegend des Gerhard-Hauptmann-Theaters hat man den Oberbürgermeister Ehrlich gefunden. Ein paar Arbeiter bringen ihn herangeschleppt. Er soll sprechen und man stößt ihn vor das Mikrophon. Er beginnt: "Ich bin der Meinung" - brüllender Gegenruf der Menge: "Deine Meinung wollen wir nicht hören." Ehrlich wird niedergeschrieen und vom Podium heruntergestoßen, und er bekommt seine ersten Prügel.

12,00 Uhr:

Während dieser Vorgänge auf dem Obermarkt hat sich ein besonderer Zug gebildet, der vor das Haus der Kreisleitung der SED, dem früheren Ständehaus, auf dem Mühlweg gezogen ist. Das SED-Haus wird gestürmt, Transparente, Bücher, Broschüren zerfetzt, der Kreissekretär Weichhold - der rote Diktator von Görlitz - entdeckt und von der Menge schwer mißhandelt. Grinsend lümmeln zwei Rotarmisten mit umgehängten Maschinenpistolen dicht daneben am Zaun und sehen lachend den Mißhandlungen zu.

Nachdem im Haus der Kreisleitung gründlich aufgeräumt ist, formiert sich der Zug erneut und nun geht es den Mühlweg hinauf zum Gebäude des SSD in der Thälmannstraße, Ecke Blumenstraße. Niemand weiß, wo die Dinge, die die Arbeiter in den Händen halten, hergekommen sind. Da sieht man große schwere Vorschlaghammer, Brechstangen, Knüppel, Äxte usw. Der Zug erreicht das Gebäude des SSD. Die eisernen Rollos sind heruntergelassen. Die Tür mit einem Schrank von innen verbarrikadiert. Als die Menge das Gebäude stürmen will, schießen die SSD-Leute durch die Spalten der Jalousien. Etwa 10 bis 15 Schüsse fallen. Die Kugeln pfeifen dicht über die Köpfe der Menge hinweg. Die Menschen weichen keinen Schritt zurück. Die Arbeiter Bartsch nimmt den Kreissekretär Weichhold, den man mit verbundenem Kopf und blutendem Gesicht im Zug mitgeführt hat, und schiebt ihn als Kugelfang vor sich her. Man erreicht, daß eine Delegation von 10 Personen in das Gebäude eingelassen wird, damit sie sich überzeugen sollen, daß keine politischen Häftlinge in den Kellern verborgen sind. Zur Vorsicht wird Genosse Weichhold mit in das Gebäude geschleift. In den Kellern findet man nur einen einzigen Häftling, und zwar einen Angehörigen der kasernierten Vopo, der am Abend zuvor aus Zittau eingeliefert wurde. Er wird befreit, eilt auf die Straße und wird sofort von der Menge mißhandelt, weil diese glaubt, einen SSD-Angehörigen vor sich zu haben. Die übrigen Häftlinge sind, wie man feststellt, etwa 2-3 Stunden vorher aus Görlitz im Kraftwagen weggebracht worden. Man vermutet, in die polnische Oststadt.

Als sich die Delegation erneut in die Keller begibt, um nach einem angeblichen unterirdischen Gang zur nahegelegenen russischen Kommandantur zu suchen, schließen blitzschnell die SSD-Angestellten die Kellertüren und 6 Arbeiter sind eingeschlossen. Diese verständigen sich durch die Kellerfenster mit der Menge vor dem Gebäude. Ein Schrei der Wut und Empörung wird laut und nun bricht der Sturm los. Das Gebäude wird gestürmt, und die Arbeiter im Keller werden befreit .In den Räumen des SSD wird gründlich aufgeräumt. Der SSD-Angehörige Günter Henkel greift zur Waffe und schießt. Er wird von der Menge schwer zusammengeschlagen und in erheblich verletztem Zustande in die Poliklinik eingeliefert, wo ihm zunächst durch Dr. med. Frech ärztliche Hilfe verweigert wird. Im SSD-Gebäude findet man die Einwohnerkartei. Ihr Inhalt fliegt auf die Straße. Neugierige heben einzelne Karteikarten auf und entdecken, daß der SSD nicht nur die politische Gesinnung und alle sonstigen in Betracht kommenden Tatsachen verzeichnet hat, sondern daß sogar jedes einzelne Postpäckchen notiert ist, das der Betreffende jemals aus dem Westen erhalten hat. Ein Arbeiter steckt sich ein Bündel Akten ein und gibt seinen Kollegen den Rat, ebenso zu handeln. Der große Geldschrank wird auf den Balkon geschleppt und auf die Straße hinuntergeworfen. Trotzdem bleibt er verschlossen.

In dem Trubel versucht "Genosse Weichhold" zu entkommen. Es gelingt ihm nicht. Eine Gruppe von etwa 15 Arbeitern nimmt ihn in ihre Mitte und führt ihn im Triumphzug durch die Straßen der Stadt. Die ihn begleitenden Arbeiter rufen dabei immer wieder im Sprechchor: "Das nennt sich Freundschaft!" Ein Arbeiter wirft aus dem SSD-Gebäude Bilder und Transparente. Ein Rotarmist, der von der in der Nähe gelegenen Kommandantur herübergekommen ist und sich lachend den Sturm mit angesehen hat, reißt ein großes Stalinbild von der Wand und gibt es dem deutschen Arbeiter Bartsch, damit dieser es ebenfalls auf die Straße hinunterwerfe!

Zum Schluß wird die große rote Fahne vom SSD-Gebäude feierlich und unter Jubel vor dem Haus verbrannt.

13,00 Uhr:

Die Kundgebung auf dem Obermarkt geht langsam zu Ende; das 20-köpfige Streikkomitee, zu dem der Architekt Kamenz und der Autoschlosser Gierich gehören und das in der Zwischenzeit im Hotel Schwarzenberg getagt hat, läßt durch einen Sprecher verkünden, daß die Demonstration nunmehr beendet sei und daß nachmittags um 15 Uhr eine große Kundgebung der gesamten Bevölkerung auf dem Obermarkt stattfinde. Gierich stimmt das Deutschlandlied an. Tausende singen die dritte Strophe: "Einigkeit und Recht und Freiheit". Ergrauten Männern bleibt der Ton in der Kehle sitzen, Tränen rollen über die Gesichter und keiner schämt sich dieser Tränen.

13,15 Uhr: Der Postplatz.

Rund 1.000 Menschen drängen sich vor dem Eingang des großen Frauengefängnisses. Arbeiter versuchen, gewaltsam einzudringen. Die Wachmannschaft hat sich verschanzt und spritzt aus mehreren Schläuchen dicke Wasserstrahlen gegen die anstürmenden Demonstranten.Ddie Empörung und die Wut der Menge läßt sich aber nicht mit Wasser abkühlen. Da gibt der Anstaltsleiter den Feuerbefehl. Mehrere Schüsse krachen, ohne jemanden zu treffen. Diese Schüsse sind das Signal zum Sturm auf das Gefängnis. Das breite Einfahrtstor zum ersten Hof wird eingeschlagen, auch die kleine Tür zum zweiten Hof fliegt auf, und schon beginnen die ersten Arbeiter in den Zellenbau einzudringen, in dem etwa 350 bis 400 weibliche Häftlinge gefangen sind. Da die Wachmannschaft immer noch Widerstand leistet, muß jede Zellentür gewaltsam aufgebrochen werden. Erschütternde Szenen spielen sich ab, als die ersten Gefangenen aus ihren Zellen herauskommen. Weinend liegen sie sich gegenseitig in den Armen. Da steht eine 60jährige weißhaarige Frau. Sie hat 6 Jahre Zuchthaus bekommen, weil sie 10 Pfund Kaffee in Westberlin gekauft hat. Vielen stehen die Spuren der langjährigen Haft und der erlittenen seelischen Qualen deutlich auf den Gesichtern geschrieben.

Nur einem Teil der Gefangenen können die notwendigen Personalausweise ausgehändigt werden. Die meisten von ihnen verlassen das Gefängnis in ihrer Anstaltskleidung, ohne Papiere, ohne Geld.

14,30 Uhr:

Die Lautsprecher verkünden, daß die auf 15 Uhr angesetzte Kundgebung nicht stattfndet. Die Menschen auf der Straße sehen sich erstaunt an. Was war geschehen? Eine Handvoll von Funktionären der SED und der FDJ hatten sich vorübergehend des Stadtrundfunkes bemächtigt und die Kundgebung von sich aus abgeblasen.

Schon kurze Zeit später ist der Rundfunk wieder im Besitz der Aufstandsbewegung. Lautsprecherwagen fahren durch die Straßen und verkünden, daß die angesetzte Kundgebung stattfindet.

15.00 Uhr:

Der Obermarkt füllt sich, von allen Seiten strömen die Einwohner herbei. Wieder sind es alle Schichten der Bevölkerung. Auch die vielen Heimatvertriebenen, die Rentner, die Hausfrauen und die Schulkinder sind gekommen. Bald ist der Obermarkt überfüllt, Postplatz und Wilhelmplatz nehmen die weiteren Menschen auf, die dort an den Lautsprechern die Kundgebung verfolgen. Rund 50.000 Menschen, also jeder 2. Einwohner der Stadt, sind erschienen.

Die Redner: Arbeiter, Angestellte, Gewerbetreibende, Angehörige der Intelligenz, u.a. der Architekt Kamenz , rechnen scharf mit dem System und ihren bisherigen Vertretern ab. Oberbürgermeister Ehrlich wird öffentlich aufgefordert, zurückzutreten und sein Amt in die Hände der noch zu wählenden Delegation zu legen. Ehrlich erklärt sein Einverständnis, er sehe ein, daß er aufgrund der eingetretenen Verhältnisse nicht länger Oberbürgermeister sein könne, die Partei habe versagt und müsse die Folgen tragen.

Ein Redner fordert die Menge auf, daß jeder Betrieb zwei Delegierte wähle und daß aus diesen Delegierten eine Gesamtvertretung zu bilden sei, die sich um 18.00 Uhr auf dem Rathaus einzufinden habe, um von den bisherigen Vertretern der Stadt die Verwaltung zu übernehmen. Er forderte alle Schichten der Bevölkerung, insbesondere auch die Intelligenz, zur Beteiligung an dieser Delegation auf.

Hierauf spricht ein älterer Görlitzer. Seine Worte bilden für viele den Höhepunkt der Kundgebung. Er führt aus:

"Görlitzer! Die meisten von Euch werden sich kennen. Ich bin der alte Latt. Seit 1904 habe ich der Sozialdemokratischen Partei angehört und ich habe in meinem Leben nun drei Revolutionen mitgemacht: die Revolution von 1918, die von 1945 und heute die Revolution vom 17. Juni 1953. Görlitzer, ich muß offen bekennen, das ist die größte Freude meines Lebens, daß ich diesen Tag erleben durfte. Acht Jahre lang waren wir gefesselt und geknebelt, acht Jahre lang durften wir nicht so sprechen, wie wir dachten. Nun ist das alles vorbei. Die Stunde der Freiheit hat geschlagen: Wir brauchen keine Wahl mehr, denn wer Augen hat zu sehen und Ohren hat zu hören, der weiß, wie die Bevölkerung der Ostzone denkt und sich entschieden hat. Die Wahl ist einstimmig ausgefallen und die SED und ihre Funktionäre sollen sich aus dem Staube machen, bevor sie der gerechte Zorn der 18 Millionen trifft. Görlitzer, es lebe die Juni-Revolution von 1953" Minutenlanger Beifall brandet nach diesen Worten auf. So ähnlich hatten sie alle gedacht und nun war dies in Worten ausgesprochen worden, was jeder sagen wollte.

16.00 Uhr:

Gerüchte gehen um. Die polnische Oststadt von Görlitz soll ebenfalls im Aufstand stehen. Der Lärm der Kundgebung der deutschen Bevölkerung sei über die Neiße in die Oststadt gedrungen und habe dort die Arbeiter und Einwohner auf die Straße getrieben. Die polnische Garnison sei alarmiert und habe die einzige Brücke an der Stadthalle besetzt. Auf der deutschen Seite werde die Brücke von russischem Militär bewacht. Trotzdem seien einige Polen durch die Neiße gekommen und befänden sich hier auf dem Obermarkt und nähmen mit an der Kundgebung teil. Sie hätten geäußert: "Macht weiter, wir helfen Euch, wir liefern Euch Waffen!"

Ein anderes Gerücht: Starke Verbände von kasernierter Volkspolizei und russischen Streitkräften seien im Anmarsch auf Görlitz.

17.00 Uhr:

Ein russischer Panzerspähwagen fährt langsam an der Menge entlang über den Obermarkt. Er wird mit Johlen und Pfeifen und Sprechchören: "Rußki go home"empfangen. Der Offizier in der offenen Luke sieht ängstlich und unentschlossen nach allen Seiten, der Panzer verschwindet. Auf dem Postplatz halten zwei große Mannschaftswagen mit kasernierter Vopo. Sie werden von der Menge umringt. Die Vopos springen von den Wagen herunter und wollen die Bevölkerung wegdrängen und zerstreuen. Aber sie sind machtlos, sie selbst werden weggedrängt und in einzelne Gruppen aufgelöst, während ein anderer Teil der Menge sich auf die Fahrzeuge stürzt und versucht, diese umzukippen. Tatsächlich gelingt es auch, die Fahrzeuge hochzuheben, so daß die Vopo schnell zurückrennt, um wenigstens ihre Wagen zu retten. Die Vopos klettern auf ihre Fahrzeuge und brausen unter Gejohle und Zurufen der Menge ab.

17,30 Uhr:

Der Stadtfunk ist wieder im Besitz der SED. Er meldet sich und verliest eine Bekanntmachung des russischen Kommandanten, wonach über das Stadtgebiet von Görlitz mit Wirkung am 18.00 Uhr der Ausnahmezustand verhängt wird. Ansammlungen von mehr als zwei Personen auf Straßen und Plätzen sind verboten. Zuwiderhandlungen werden nach dem russischen Militärgesetz bestraft.

Zu diesem Zeitpunkt befinden sich noch Tausende von Menschen auf dem Obermarkt und anderen Plätzen der Stadt. Keiner denkt daran, nach Hause zu gehen. Keiner glaubt, daß die Rote Armee mit Gewalt gegen die Bevölkerung vorgehen will, nachdem die Besatzungsmacht vom frühen Morgen an den Aufstand beobachtet, nicht verhindert, sondern geduldet hat.

19.00 Uhr:

In der Berliner Straße ertönt Marschgesang und der Rhythmus einer marschierenden Truppe. Die Bevölkerung eilt an die Fenster oder bleibt auf den Bürgersteigen stehen. Zwei Kompanien kasernierter Volkspolizei marschieren mit aufgepflanztem Seitengewehr, die Offiziere in mehreren Gliedern an der Spitze, durch die Berliner-, Hospital-, Jakobstraße in Richtung Bahnhof. Von den Bürgersteigen kommen Zurufe: "Ihr wollt Arbeitersöhne sein? Ihr wollt auf Arbeiter schießen?" Die Vopos sehen stur geradeaus , marschieren und singen. Kein Zusammenstoß.

Die SED verkündet durch den Stadtrundfunk: "Görlitzer, die kasernierte Volkspolizei, die jetzt durch die Straßen marschiert, ist nur zu Eurem Schutz gekommen; sie wollen Eure Arbeitsplätze und Euren Aufbau vor faschistischen Provokateuren und Agenten schützen." Hohngelächter und spöttische Ausrufe der Bevölkerung sind die Antwort.

19,30 Uhr:

Leichte russische Straßenpanzer und Mannschaftswagen mit kasernierter Vopo rollen durch die Straßen. Und dann fangen die Häuser zu zittern und zu beben an, dumpfes Brausen und Brummen ertönt: Etwa zehn schwere T 34 rollen durch die Straßen von Görlitz, die Rote Armee übernimmt die Gewalt.

21.00 Uhr:

Langsam leeren sich die Straßen. Nirgends ist es zu einem Zwischenfall mit der Besatzungsmacht gekommen. Unablässig fahren die russischen Mannschaftswagen und Panzer durch die Straßen. In der Berliner Straße werden einige Schüsse in die Luft abgefeuert. Überall stehen oder gehen Gruppen von mehr als drei Personen. Die Rotarmisten sehen darüber hinweg, nirgends werden Passanten auseinandergetrieben oder festgenommen; die "Rote Armee" verhält sich völlig passiv, vermeidet jeden Zwischenfall.

22.00 Uhr:

Die Straßen sind fast leer. Nur noch wenige verspätete Einwohner, die ihren Wohnungen zustreben. Russische Streifen zu Fuß, immer zwei bis drei Mann, mit umgehängten PP's schlendern durch die Straßen. Obwohl die Sperrstunde längst überschritten ist, werden Zivilpersonen nicht angehalten.

Ein Teil der russischen Panzer umgibt das Gelände der LOWA. Das Stadtviertel um die Kommandantur und die dorthin führenden Straßen werden abgeriegelt.

Erst jetzt wird bekannt, daß die für 18.00 Uhr auf das Rathaus bestellte Delegation nicht mehr das Gebäude betreten konnte, weil bereits Rotarmisten davorstanden und den Untermarkt besetzt hielten. Die Verwaltung der Stadt war wieder in die Hände der alten Machthaber übergegangen.

22,30 Uhr:

Nur Panzer und Mannschaftswagen der Sowjets rattern durch die nun fast im Dunkeln liegenden Straßen. Kein Fußgänger ist mehr zu sehen. Dafür beginnen die schwarzen Limousinen der SED durch die Straßen zu rollen und die am Tage leer gewordenen Gefängnisse wieder sich zu füllen. Die ersten Verhaftungen erfolgen bereits zu diesem Zeitpunkt. Haustüren werden mit Nachschlüsseln geöffnet, vielfach auch die Wohnungstüren, so daß der SSD seine Opfer direkt aus dem Bett verhaften kann. Die ganze Nacht halten diese Verhaftungen an.

Das große Zellengefängnis am Postplatz wird in größter Eile notdürftig instandgesetzt. Das Gebäude des Kreisgerichts ist die ganze Nacht hell erleuchtet, die Verhafteten werden zunächst hierher gebracht, sofort vernommen und dann in die dahinterliegenden Zellengefängnisse gebracht. Die Bewachung dieses Gefängnisses übernimmt der SSD selbst, da die bisherige Vopo als nicht mehr zuverlässig gilt. Von Bautzen und Löbau sind Verstärkungen des SSD eingetroffen.

Der 18. Juni 1953

8.00 Uhr:

Nur zögernd und langsam beginnt das Leben in der Stadt. Wie ein Alpdruck liegt es über den 100.000 Einwohnern .Soll die SED gesiegt haben? Soll alles umsonst gewesen sein? Wo blieb die Hilfe des Westens? Wie ist die Lage der übrigen Zone? Das sind die Fragen, die an diesem Morgen alle bewegen. Man spricht über die in der Nacht vorgenommenen Verhaftungen. Die großen Betriebe, z.B. LOWA I und II, Kemo- und Fein-Optik - ca. 11.000 Arbeiter streiken bis 21.6. - weiter. Sie entsenden eine Delegation nach dem Rathaus mit der Mitteilung, daß die Arbeit erst dann wieder aufgenommen wird, wenn die in der Nacht Festgenommenen freigelassen werden. Die Delegation kommt nicht wieder zurück. Sie ist ebenfalls verhaftet worden, wird aber nach 2 Tagen wieder freigelassen.

9 - 12.00 Uhr:

Stimmung der Bevölkerung.

Viele sind niedergeschlagen und deprimiert. Sie glauben, daß nun das System fester als je im Sattel sitzt und daß die Stunde der Freiheit in weite Ferne gerückt ist. Andere meinen, daß dieser 17. Juni 1953 der Todesstoß für die Herren in Pankow war und daß sich von diesem Stoß das System nie wieder wird erholen können. Ein Arbeiter sagte: "Gestern haben wir zum ersten Mal erlebt, daß wir nicht allein sind. Wir haben immer geglaubt, daß es zwar viele Unzufriedene und Gegner dieses Staates gibt. Wir haben aber nicht gewußt, daß 18 Millionen Menschen so denken. Wir haben auch niemals geglaubt, daß wir mit leeren Händen, ohne Waffen und ohne eigentlichen Plan etwas gegen die Gewalt dieses Staates erreichen können. Seit dem 17. Juni 1953 wissen wir, daß wir sehr stark sind, ja, daß wir unüberwindlich sind, wenn wir zusammenhalten und uns alle einig sind, gegen dieses System der Gewalt, des Terrors, der Unterdrückung und der Ausbeutung zu marschieren. Das ist der Sinn und das ist der Gewinn des 17. Juni 1953. Und diese Zuversicht und dieser Glaube wird uns stark machen in den schweren Wochen und Monaten, die jetzt für uns alle kommen werden".

[Quelle: Privatarchiv Hartmut Dach; hektographiertes Manuskript. - Hervorhebungen im Original. Ein Autor ist auf dem Manuskript nicht angegeben.]