Brief von Stephen J. L. Olver, Mitarbeiter des politischen Zweiges der britischen Militärregierung in Berlin, an Peter Hope beim britischen Hochkommissar in Wahnerheide, 19.6.1953

Kennzeichnung: Geheim.

Lieber Peter,

1. durch die offiziellen Erklärungen und die Hinrichtung von Willi Göttling wird bereits deutlich, daß in der östlichen Propaganda im Zusammenhang mit den Tumulten "westliche Provokation" als Hauptursache hingestellt wird.

2. Wie wir bereits in Telegrammen klargemacht haben, ist für uns die Vorstellung einer westlichen Aufhetzung zu den Unruhen absolut unhaltbar; vielmehr handelte es sich dabei um eine Kettenreaktion; zwar mag der Ansporn vom Westen am 17. Juni die Reaktion leicht beschleunigt haben, doch waren die Hauptanreize ganz ohne Zweifel der erste trunken machende Hauch von Freiheit und das Gefühl, daß die DDR-Behörden machtlos waren und die Russen nicht einschreiten würden, um ihnen zu Hilfe zu kommen.

3. Bis dahin ist das westliche Wappen eigentlich makellos. Es kommen jedoch weitere Beweisstücke ins Spiel, die, obgleich sie, wie ich meine, unser grundlegendes Urteil zu dieser Frage nicht ändern, bei cleverer Ausnutzung durch die andere Seite Munition für deren Provokationsthese liefern.

4. Das wichtigste dieser Beweisstücke sind die Informationen, die wir inzwischen über die Aktivitäten des DGB-Ostbüros haben. Während der wenigen Tage zwischen der Bekanntgabe der neuen Maßnahmen durch die SED und dem Ausbruch der Unruhen tat das Ostbüro sein Möglichstes, um den Widerstand gegen die Erhöhung der Normen zu schüren, insbesondere unter den Bauarbeitern in der Stalinallee; es sei daran erinnert, daß es eine Gruppe von Arbeitern in der Stalinallee war, die mit der Protestdemonstration am 16. Juni begannen. Eine Abordnung von Anführern dieser Gruppe, die während der Nachmittagsdemonstrationen am 16. Juni ohne Erfolg versucht hatte, sich Eingang zum Ministerium zu verschaffen, kam dann vollzählig herüber in das Westsektoren-Büro des DGB-Ostbüros, wo sie die Lage mit HAAS, dem Leiter des Büros, erörterten. Sie waren anscheinend für die sofortige Ausrufung eines Generalstreiks, und HAAS behauptet, er habe ihnen das ausgeredet und allgemeines Einvernehmen darüber erreicht, daß sie an ihre Arbeitsplätze zurückkehren und am nächsten Morgen Zusammenkünfte einberufen würden, um im folgenden Sinne über Resolutionen zu diskutieren:

a) Mit Genugtuung ist festzustellen, daß infolge ihres Handelns die zwangsweise Normenerhöhung von der Regierung zurückgenommen wurde.

b) Zusätzliche Forderungen werden gestellt, z. B. Rückgabe von landwirtschaftlichem Eigentum, Senkung der Preise, Abschaffung der Normenschraube und Zensur, freie Wahlen in Berlin und Deutschland, nächste Lohnzahlung nach den alten Normen usw.

c) Wenn diese Forderungen von der Regierung nicht erfüllt werden, wird es wieder zum Streik kommen.

Ob dies so ist oder nicht - jedenfalls hat RIAS, wo die Delegation anschließend hinging, die Forderungen in der Form, wie sie im Telegramm Nr. 153 aus Berlin (1) dargestellt ist, gesendet und damit den Prozeß teleskopartig verkürzt. Es entstand der Eindruck, die Arbeiter sollten weiterstreiken, bis diese Forderungen erfüllt wurden. Ich habe den Verdacht, die RIAS-Meldung könnte einen merklichen Einfluß insofern gehabt haben, als dadurch eine viel größere Zahl von Arbeitern am nächsten Morgen auf die Straße ging. [...]

5. Im allgemeinen tendieren die Programme von RIAS zum Sensationellen. Zum Beispiel wurde ein erheblicher Teil des Programms am 17. Juni durch Augenzeugenberichte des Aufstands bestritten, die - was immer damit bezweckt werden sollte - lediglich dazu gedient haben können, die Gemüter zu erregen.

6. Wir sind dabei, die Aktivitäten der hiesigen SPD während der Unruhen eingehender zu betrachten und hoffen, Ihnen hierzu getrennt einiges berichten zu können. Abgesehen von der SPD war die "Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit" am 17. Juni insofern aktiv, als sie im Ostsektor 300.000 Flugblätter verteilte, die als Aufschrift die vier Forderungen der Arbeiter tragen, denen zwei weitere hinzugefügt waren: Freilassung von politischen Gefangenen und Auflösung der SED; weitere Flugblätter ähnlicher Art wurden, wie ich hörte, vom DGB im Laufe des gleichen Tages verteilt. Auch die freien Rechtsanwälte wurden von sich aus aktiv und verteilten Flugblätter mit der Aufforderung an die Bevölkerung, Widerstand zu leisten.

[...]

Immer Dein Stephen (S. J. L. OLVER)

Anmerkungen:

1) Siehe unter 17.6.1953, 12.35 Uhr: Aufstand der Bevölkerung.

[Quelle: PRO FO 371/103842, abgedruckt in: Gerhard Beier, "Wir wollen freie Menschen sein." Der 17. Juni 1953: Bauleute gingen voran, Köln 1993, S. 135 f.]