Streng geheim

Über die Maßnahmen zur Gesundung der politischen Lage in der Deutschen Demokratischen Republik (ohne Datum)


Infolge der Durchführung einer fehlerhaften politischen Linie ist in der Deutschen Demokratischen Republik eine äußerst unbefriedigende politische und wirtschaftliche Lage entstanden.

Unter den breiten Massen der Bevölkerung, darunter auch unter den Arbeitern, Bauern und der Intelligenz ist eine ernste Unzufriedenheit zu verzeichnen in Bezug auf die politischen und wirtschaftlichen Maßnahmen, die in der DDR durchgeführt werden. Das kommt am deutlichsten in der massenhaften Flucht der Einwohner der DDR nach Westdeutschland zum Ausdruck. So sind vom Januar 1951 bis April 1953 447 Tausend Personen nach Westdeutschland geflüchtet, darunter über 120 Tausend lediglich während der vier Monate des Jahres 1953. Einen bedeutenden Teil der Geflüchteten machen werktätige Elemente aus. Unter den 1953 geflüchteten befinden sich: Arbeiter - etwa 18 Tausend, mittlere und Kleinbauern, Handwerker und Rentner - etwa 9 Tausend, Angestellte und Angehörige der werktätigen Intelligenz - etwa 17 Tausend, Hausfrauen über 24 Tausend. Von den Einheiten der kasernierten Polizei sind nach Westdeutschland 8 Tausend Mann geflüchtet. Es fällt auf, daß sich unter den innerhalb der vier Monate 1953 nach Westdeutschland Geflüchteten 2718 Mitglieder und Kandidaten der SED und 2610 Mitglieder der FDJ befinden.

Als Hauptursache der entstandenen Lage ist es anzuerkennen, daß gemäß den Beschlüssen der Zweiten Parteikonferenz der SED, gebilligt vom Politbüro des ZK der KPdSU(B), fälschlicherweise der Kurs auf einen beschleunigten Aufbau des Sozialismus in Ostdeutschland genommen worden war ohne Vorhandensein der dafür notwendigen realen sowohl innen- als auch außenpolitischen Voraussetzungen. Die sozial-wirtschaftlichen Maßnahmen, die in Verbindung damit durchgeführt werden, und zwar eine Beschleunigung der Entwicklung der schweren Industrie, die dabei auch keine gesicherte Rohstoffquellen hat, eine jähe Einschränkung der Privatinitiative, die die Interessen einer breiten Schicht der nicht großen Eigentümer in Stadt und Land beeinträchtigt, und Entzug der Lebensmittelkarten für alle Privatunternehmer und Freischaffenden, besonders eine übereilte Schaffung der landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften ohne eine dafür notwendige Grundlage auf dem Dorfe haben dazu geführt, daß auf dem Gebiet der Versorgung der Bevölkerung mit Industriewaren und Nahrungsmitteln ernste Schwierigkeiten entstanden, daß der Kurs der Mark stark gefallen ist, daß eine große Anzahl der kleinen Eigentümer wie Handwerker, Gewerbetreibende usw. ruiniert sind und haben bedeutende Schichten der Bevölkerung gegen die bestehende Macht gestimmt. Es ist so weit gekommen, daß zur Zeit über 500 Tausend Hektar Land verlassen und brachliegen, und die haushälterischen deutschen Bauern, die sonst stark an ihrem Landstück hängen, es begannen, massenhaft ihr Land und ihre Wirtschaft zu verlassen und sich nach Westdeutschland zu begeben.

Die politische und ideologische Arbeit, geführt unter der Lenkung von der SED, entspricht nicht den Aufgaben der Stärkung der Deutschen Demokratischen Republik. Insbesondere wurden ernste Fehler in bezug auf die Geistlichen begangen, die in einer Unterschätzung des Einflusses der Kirche unter den breiten Massen der Bevölkerung, in groben Administrierungsmaßnahmen und Repressalien ihren Ausdruck fanden.

Als ein grober Fehler ist auch die Unterschätzung der politischen Arbeit unter der Intelligenz anzuerkennen. Dadurch erklären sich teilweise die in einem bedeutenden Teil der Intelligenz vorhandenen Schwankungen, Unbeständigkeit und sogar ein feindliches Verhalten zur gegenwärtigen Ordnung.

Das alles schafft eine ernste Gefahr für die politische Beständigkeit der Deutschen Demokratischen Republik.

Zur Verbesserung der entstandenen Lage ist es notwendig:
  1. Unter den heutigen Bedingungen der Kurs auf eine Forcierung des Aufbaus des Sozialismus in der DDR, der von der SED eingeschlagen und vom Politbüro des ZK der KPdSU(B) in seinemBeschluß vom 8. Juli 1952 gebilligt worden war, ist für nicht richtig zu halten.
  2. Zur Gesundung der politischen Lage in der DDR und zur Stärkung unserer Positionen sowohl in Deutschland selbst, als auch in der Deutschlandfrage auf der internationalen Ebene und zur Sicherstellung und Ausbreitung der Basis einer Massenbewegung für die Schaffung eines einheitlichen, demokratischen, friedliebenden, unabhängigen Deutschlands ist der Führung der SED und der Regierung der DDR die Durchführung folgender Maßnahmen zu empfehlen.
    a) ein künstliches Aufbringen der landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften, die sich in der Praxis nicht bewährt haben und die eine Unzufriedenheit unter den Bauern hervorrufen, ist einzustellen.
    Alle bestehenden ländwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften sind sorgfältig zu überprüfen und dieselben, die auf einer unfreiwilligen Basis geschaffen sind oder die sich als lebensunfähig gezeigt haben, sind aufzulösen. Es ist im Auge zu halten, daß unter den heutigen Bedingungen in der DDR nur eine einfachere Form der Produktionskooperierung der Bauern, wie die Genossenschaften zur gemeinsamen Bearbeitung des Bodens, ohne daß die Prouktionsmittel vergesellschaftlicht werden, mehr oder weniger lebensfähig sein kann. Solche Genossenschaften können, wenn ihnen eine zustehende Hilfe gewährt wird, zu einem anziehenden Beispiel für das Bauerntum werden;
    b) es sind die bestehenden Maschinen-Ausleihstationen zu stärken und die neuen M S2nach Möglichkeit zu schaffen als der wichtigste Hebel der Einwirkung im Dorfe und das Hauptmittel der Hilfeleistung an die werktätigen Bauern zur Hebung der Produktivität der Landwirtschaft. Neben der Hilfe an die Genossenschaften zur gemeinsamen Bearbeitung des Bodens sollen die Maschinen-Ausleihstationen auch individuelle Bauernwirtschaften auf Grund der Ausleihverhältnisse bedienen;
    c) die Politik der Einschränkung und der Ausdrängung des mittleren und kleinen Privatkapitals ist als eine vorzeitige Maßnahme zu verwerfen. Zur Belebung des wirtschaftlichen Lebens der Republik ist es notwendig, eine breite Heranziehung des Privatkapitals in verschiedenen Zweigen der kleinen und Gewerbeindustrie, in der Landwirtschaft, sowie auch auf dem Gebiet des Handels für zweckmäßig zu halten, ohne dabei seine Konzentrierung in großem Ausmaß zuzulassen.
    Bei der Verteilung der materiellen Ressourcen ist die Zuteilung von Rohstoffen, Heizmitteln, Elektroenergie und die Bereitstellung von Krediten an die Privatunternehmen vorzusehen. Das existierende System der Besteuerung der Privatunternehmer, das praktisch den Drang zur Beteiligung an dem Wirtschaftsleben tötet, ist in der Richtung einer Linderung der Steuerpresse zu revidieren. Die Kartenversorgung mit Lebensmitteln für die Privatunternehmer sowie auch für die Freischaffenden ist wiederherzustellen.
    d) Der Fünfjahrplan der Entwicklung der Volkswirtschaft der DDR ist zu revidieren in der Richtung einer Lockerung des überspannten Tempos der Entwicklung der schweren Industrie und einer schroffen Vergrößerung der Produktion der Massenbedarfswaren und der vollen Sicherung der Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln, um schon in der nächsten Zeit es möglich wäre, das Kartensystem der Versorgung mit Lebensmitteln zu liquidieren;
    e) Notwendige Maßnahmen zur Sanierung des Finanzsystems zur Herabsetzung der administrativen und Sonderausgaben, sowie zur Stärkung und Hebung des Kurses der Mark der DDR sind durchzuführen;
    f) Maßnahmen zur Stärkung der Gesetzlichkeit und Gewahrung der Bürgerrechte zu treffen, von harten Strafmaßnahmen, die durch Notwendigkeit nicht hervorgerufen werden, abzusehen. Die Gerichtsunterlagen der bestraften Bürger wiederzuprüfen zwecks Befreiung der ohne genügende Gründe zur Verantwortung gezogenen Personen. Unter diesem Gesichtspunkt entsprechende Änderungen in der bestehenden Strafgesetzgebung vorzunehmen.
    g) Eine breite Entfaltung der politischen Arbeit unter allen Volksschichten bei entscheidender Ausrottung der Elemente von nackter Administrierung ist als eine der wichtigsten Aufgaben der SED zu betrachten. Es ist eine solche Lage zu erreichen, daß die Regierungsmaßnahmen vom Volke verstanden werden und unter der Bevölkerung selbst Unterstützung finden.
    Besondere Aufmerksamkeit ist der politischen Arbeit unter der Intelligenz zu widmen, um zu gewähren, daß die Hauptmasse der Intelligenz sich der aktiven Teilnahme an der Durchführung der Maßnahmen zur Stärkung der bestehenden Ordnung zuwendet.
    Zur Zeit und in der nächsten Zukunft ist es notwendig, sowohl in der DDR als auch in West-deutschland die Aufgaben des politischen Kampfes für die Wiederherstellung der nationalen Einheit Deutschlands und zur Abschließung eines Friedensvertrages zum Mittelpunkt der Aufmerksamkeit der breiten Massen des deutschen Volkes zu machen. Dabei ist es notwendig, die politische und wirtschaftliche Lage in der DDR zu berichtigen und zu stärken und den Einfluß der SED unter den breiten Arbeitermassen und anderen demokratischen Schichten in Stadt und Land bedeutend zu vergrößern.
    Die bis zu dieser Zeit durchgeführte Propaganda über die Notwendigkeit des Übergangs der DDR zum Sozialismus als unrichtig zu betrachten, da sie die Parteiorganisationen der SED zu unzulässig vereinfachten und hastigen Schritten sowohl auf dem politischen als auch auf dem wirtschaftlichen Gebiet treibt. Dabei ist die bedeutende Stärkung der Rolle des Blocks der demokratischen Parteien und Massenorganisationen sowie der Nationalen Front des demokratischen Deutschlands im Staats- und Gesellschaftsleben der DDR als notwendig zu betrachten.
    h) Einem nackten Administrieren in Bezug auf die Geistlichen ist Schluß zu machen und die schädliche Praxis der groben Einmichung der Behörden in die Angelegenheiten der Kirche ist einzustellen. Alle Maßnahmen, die direkten Interessen der Kirche und der Geistlichen einengen, sind aufzuheben, und zwar: Beschlagnahme der karitativen Kirchenanstalten (Alten- und Waisenheime), Abnahme durch lokale Behörden brachliegender kirchlichen Bodenfläche, Entziehung der für die Kirche festgelegten Subventionen usw. Die Verfolgung der einfachen Teilnehmer der kirchlichen Jugendorganisation »Junge Gemeinde« ist einzustellen und die politische Arbeit unter ihnen zum Schwerpunkt zu machen. Es ist im Auge zu halten, daß Repressalien gegenüber der Kirche und den Geistlichen nur dazu beitragen können, den religiösen Fanatismus der rückständigen Schichten der Bevölkerung zu stärken und ihre Unzufriedenheit zu vergrößern, darum muß als Hauptkampfmittel gegen den reaktionären Einfluß der Kirche und der Geistlichen eine tüchtig durchdachte Aufklärungs- und Kulturarbeit sein. Als Grundform der antireligiösen Propaganda ist eine weite Verbreitung der wissenschaftlichen und politischen Kenntnisse unter der Bevölkerung zu erkennen.
  3. Die Gewährung der wirtschaftlichen Hilfe an die DDR seitens der UdSSR, insbesondere auf dem Gebiet der Lebensmittelversorgung, ist als notwendig zu erkennen.
  4. Der Hohe Kommissar der UdSSR in Deutschland, Genosse Semjonow, und der Befehlshaber der sowjetischen Besatzungstruppen, Genosse Gretschko, sind verpflichtet, die bestehenden Mängel in der Ausübung der Besatzungsregime durch sowjetische Truppen zu beseitigen, Maßnahmen zu treffen, um zu gewähren, daß das Dasein der sowjetischen Besatzungstruppen möglichst weniger die direkten Interessen der Zivilbevölkerung beeinträchtigt, insbesondere sind alle durch sowjetische Truppen besetzten Räume der Bildungsanstalten, Krankenhäuser und Kulturstätten freizumachen.
  5. Von dem Standpunkt ausgehend, daß die politische und wirtschaftliche Lage der DDR einer der wichtigsten Faktoren nicht nur in der Lösung der allgemeinen Deutschlandfrage, sondern auch in der friedlichen Regelung der friedlichen Regel und der internationalen Grundprobleme ist, ist bei der Bestimmung der gesamten politischen Linie für diese oder jene Zeitperiode und bei der Durchführung jeder konkreten Maßnahme zur Stärkung der DDR streng die realen Bedingungen innerhalb der DDR wie auch die Lage in Deutschland in ganzem und die internationale Lage zu berücksichtigen.
  6. Da zur Zeit die Hauptaufgabe der Kampf für die Vereinigung Deutschlands auf demokratischer und friedlicher Grundlage ist, müssen die SED und die KPD, als Bannerträger im Kampf für die nationalen Bestrebungen und für die Interessen des ganzen deutschen Volkes, die Durchführung einer elastischen, auf maximale Splitterung der Kräfte ihres Gegners und Ausnutzung jeglicher oppositionellen Strömungen gegen die käufliche Clique Adenauers gerichtete Taktik gewährleisten. Deshalb, da die Sozialdemokratisehe Partei Westdeutschlands, der noch bisher bedeutende Massen der Werktätigen folgen, gegen die Bonner Verträge, wenn auch ungenügend konsequent, auftritt, ist die total feindliche Position gegenüber dieser Partei für die heutige Periode zu verwerfen, und es ist zu versuchen, wo und wenn es möglich ist, gemeinsame Aktionen gegen die Adenauersche Politik der Spaltung und der imperialistischen Knechtung Deutschlands zu organisieren.
[Quelle: SAPMO-BArch, DY 30/J IV 2/2/286, Bl. 21-26; auch abgedruckt bei: Rolf Steininger, Deutsche Geschichte seit 1945. Darstellung und Dokumente in vier Bänden, Band 2: 1948-1955, Frankfurt/M. 1997, S. 241-246.]