Bundesgesetzblatt
Teil 1

1953
Ausgegeben zu Bonn, am 22. Mai 1953
Nr.22

Der Bundestag hat mit Zustimmung des Bundesrates das folgende Gesetz beschlossen:

ERSTER ABSCHNITT

Allgemeine Bestimmungen

Erster Titel

Begriffsbestimmungen


§1

Vertriebener


(1) Vertriebener ist, wer als deutscher Staatsangehöriger oder deutscher Volkszugehöriger seinen Wohnsitz in den zur Zeit unter fremder Verwaltung stehenden deutschen Ostgebieten oder in den Gebieten außerhalb der Grenzen des Deutschen Reiches nach dem Gebietsstande vom 31. Dezember 1937 hatte und diesen im Zusammenhang mit den Ereignissen des zweiten Weltkrieges infolge Vertreibung, insbesondere durch Ausweisung oder Flucht, verloren hat. Bei mehrfachem Wohnsitz muß derjenige Wohnsitz verloren gegangen sein, der für die persönlichen Lebensverhältnisse des Betroffenen bestimmend war. Wer infolge von Kriegseinwirkungen seinen Wohnsitz in die in Satz 1 genannten Gebiete verlegt hat, ist jedoch nur dann Vertriebener, wenn aus den Umständen hervorgeht, daß er sich auch nach dem Kriege in diesen Gebieten ständig niederlassen wollte.

(2) Als Vertriebener gilt, wer als deutscher Staatsangehöriger oder deutscher Volkszugehöriger
  1. nach dem 30. Januar 1933 wegen ihm drohender oder gegen ihn verübter nationalsozialistischer Gewaltmaßnahmen auf Grund der politischen Überzeugung, der Rasse, des Glaubens oder der Weltanschauung die in Absatz 1 genannten Gebiete verlassen und seinen Wohnsitz außerhalb des Deutschen Reiches genommen hat,
  2. auf Grund der während des zweiten Weltkrieges geschlossenen zwischenstaatlichen Verträge aus außerdeutschen Gebieten oder während des gleichen Zeitraumes auf Grund von Maßnahmen deutscher Dienststellen aus den von der deutschen Wehrmacht besetzten Gebieten umgesiedelt worden ist (Umsiedler),
  3. nach Abschluß der allgemeinen Vertreibungsmaßnahmen die zur Zeit unter fremder Verwaltung stehenden deutschen Ostgebiete, Danzig, Estland, Lettland, Litauen, die Sowjetunion, Polen, die Tschechoslowakei, Ungarn, Rumänien, Bulgarien, Jugoslawien oder Albanien verlassen hat oder verläßt, es sei denn, daß er erst nach dem 8. Mai 1945 einen Wohnsitz in diesen Gebieten begründet hat (Aussiedler),
  4. ohne einen Wohnsitz gehabt zu haben, sein Gewerbe oder seinen Beruf ständig in den in Absatz 1 genannten Gebieten ausgeübt hat und diese Tätigkeit infolge Vertreibung aufgeben mußte.
(3) Als Vertriebener gilt auch, wer, ohne selbst deutscher Staatsangehöriger oder deutscher Volks- zugehöriger zu sein, als Ehegatte eines Vertriebenen seinen Wohnsitz in den in Absatz 1 genannten Gebieten verloren hat.

§ 2 Heimatvertriebener


(1) Heimatvertriebener ist ein Vertriebener, der am 31. Dezember 1937 oder bereits einmal vorher seinen Wohnsitz in dem Gebiet desjenigen Staates hatte, aus dem er vertrieben worden ist (Vertreibungsgebiet); die Gesamtheit der Gebiete, die am 1. Januar 1914 zum Deutschen Reich oder zur Österreichisch-Ungarischen Monarchie oder zu einem späteren Zeitpunkt zu Polen, zu Estland, zu Lettland oder zu Litauen gehört haben, gilt als einheitliches Vertreibungsgebiet.

(2) Als Heimatvertriebener gilt auch ein vertriebener Ehegatte oder nach dem 31. Dezember 1937 geborener Abkömmling, wenn der andere Ehegatte oder bei Abkömmlingen ein Elternteil als deutscher Staatsangehöriger oder deutscher Volkszugehöriger am 31. Dezember 1937 oder bereits einmal vorher seinen Wohnsitz im Vertreibungsgebiet (Absatz 1) gehabt hat.

§ 3

Sowjetzonenflüchtling


(1) Sowjetzonenflüchtling ist ein deutscher Staatsangehöriger oder deutscher Volkszugehöriger, der seinen Wohnsitz in der sowjetischen Besatzungszone oder im sowjetisch besetzten Sektor von Berlin hat oder gehabt hat, von dort flüchten mußte, um sich einer von ihm nicht zu vertretenden und durch die politischen Verhältnisse bedingten besonderen Zwangslage zu entziehen, und dort nicht durch sein Verhalten gegen die Grundsätze der Menschlichkeit oder Rechtsstaatlichkeit verstoßen hat. Eine besondere Zwangslage ist vor allem dann gegeben, wenn eine unmittelbare Gefahr für Leib und Leben oder die persönliche Freiheit vorgelegen hat. Wirtschaftliche Gründe allein rechtfertigen nicht die Anerkennung als Sowjetzonen-flüchtling.

(2) § 1 Abs. 1 Satz 2 und 3, Abs. 2 Nr. 4 und Abs. 3 ist sinngemäß anzuwenden.
§4

Sowjetzonenflüchtlingen gleichgestellte Personen


(1) Einem Sowjetzonenflüchtling wird gleichgestellt ein deutscher Staatsangehöriger oder. deutscher Volkszugehöriger, der im Zeitpunkt der Besetzung seinen Wohnsitz in der sowjetischen Besatzungszone oder im sowjetisch besetzten Sektor von Berlin gehabt und sich außerhalb dieser Gebiete aufgehalten hat, dorthin jedoch nicht zurückkehren konnte, ohne sich offensichtlich einer von ihm nicht zu vertretenden und unmittelbaren Gefahr für Leib und Leben oder die persönliche Freiheit auszusetzen.

(2) § 1 Abs. 1 Satz 2 und 3, Abs. 2 Nr. 4 und Abs. 3 ist sinngemäß anzuwenden.
§ 5

Verwendung des Wortes "Vertreibung"


Soweit in diesem Gesetz das Wort "Vertreibung" verwendet wird, sind hierunter auch die Tatbestände der §§ 3 und 4 zu verstehen.

§6

Volkszugehörigkeit


Deutscher Volkszugehöriger im Sinne dieses Gesetzes ist, wer sich in seiner Heimat zum deutschen. Volkstum bekannt hat, sofern dieses Bekenntnis durch bestimmte Merkmale wie Abstammung, Sprache, Erziehung, Kultur bestätigt wird.
§ 7

Nach der Vertreibung geborene oder legitimierte Kinder


Kinder, die nach der Vertreibung geboren sind, erwerben die Eigenschaft als Vertriebener oder Sowjetzonenflüchtling des Elternteiles, dem im Zeitpunkt der Geburt oder der Legitimation das Recht der Personensorge zustand oder zusteht. Steht bei den Elternteilen das Recht der Personensorge zu, so erwirbt das Kind die Eigenschaft als Vertriebener oder Sowjetzonenflüchtling desjenigen Elternteiles. dem im Zeitpunkt der Geburt oder der Legitimation das Recht der gesetzlichen Vertretung zustand oder zusteht.

§8

Heirat und Annahme an Kindes Statt


Durch Heirat oder Annahme an Kindes Statt nach der Vertreibung wird die Eigenschaft als Vertriebener oder Sowjetzonenflüchtling weder erworben noch verloren.



Zweiter Titel

Voraussetzungen für die Inanspruchnahme von

Rechten und Vergünstigungen

§ 9

Ständiger Aufenthalt


(1) Rechte und Vergünstigungen als Vertriebener oder Sowjetzonenflüchtling kann vorbehaltlich der §§ 10 bis 13 nur in Anspruch nehmen, wer im Geltungsbereich des Grundgesetzes oder in Berlin (West) seinen ständigen Aufenthalt hat.

(2) Die Beschränkung des Absatzes 1 gilt nicht für einen Vertriebenen oder Sowjetzonenflüchtling, der als Angehöriger des öffentlichen Dienstes seinen ständigen Aufenthalt im Ausland genommen hat.

§ 10

Stichtag für Vertriebene


(1) Rechte und Vergünstigungen als Vertriebener kann nur in Anspruch nehmen, wer bis zum 31. Dezember 1952 im Geltungsbereich des Grundgesetzes oder in Berlin (West) seinen ständigen Aufenthalt genommen hat.

(2) Ohne Rücksicht auf den in Absatz 1 genannten Stichtag kann ein Vertriebener Rechte und Vergünstigungen in Anspruch nehmen, wenn er im Geltungsbereich des Grundgesetzes oder in Berlin (West) seinen ständigen Aufenthalt genommen hat
  1. als nach dem 31. Dezember 1952 geborenes Kind eines zur Inanspruchnahme von Rechten und Vergünstigungen berechtigten Vertriebenen oder
  2. spätestens sechs Monate nach der Aussiedlung (§ 1 Abs. 2 Nr. 3) oder
  3. als Heimkehrer nach den Vorschriften des Heimkehrergesetzes vom 19. Juni 1950 (Bundesgesetzbl. S. 221) in der Fassung des Gesetzes zur Ergänzung und Änderung des Heimkehrergesetzes vom 30. Oktober 1951 (Bundesgesetzbl. I S. 875, 994) oder
  4. im Wege der Familienzusammenführung gemäß § 94 Abs. 2 Nr. 1 bis 3 oder
  5. als Sowjetzonenflüchtling gemäß § 3 oder
  6. nach Zuzug aus dem Ausland, wenn die hierfür im Geltungsbereich des Grundgesetzes oder in Berlin (West) bestehenden Vorschriften beachtet worden sind und der Aufenthalt im Ausland im Anschluß an die Vertreibung genommen worden war.
(3) Die Voraussetzung des Absatzes 1 gilt. als erfüllt, wenn eine Erlaubnis zum ständigen Aufenthalt vor dem Stichtag erteilt war, der Vertriebene jedoch erst nach dem Stichtag, spätestens aber innerhalb von zwei Jahren nach Erteilung der Erlaubnis seinen ständigen Aufenthalt im Geltungsbereich des Grundgesetzes oder in Berlin (West) genommen .hat.

§ 11

Ausschluß von Nutznießern und Personen, die gegen die Grundsätze der Menschlichkeit oder Rechtsstaatlichkeit verstoßen haben


Rechte und Vergünstigungen als Vertriebener kann nicht in Anspruch nehmen, wer

1. nach dem 31. Dezember 1937 erstmalig Wohnsitz in einem in das Deutsche Reich eingegliederten, von der deutschen Wehrmacht besetzten oder in den deutschen Einflußbereich einbezogenen Gebiet genommen und dort die durch die nationalsozialistische Gewaltherrschaft geschaffene Lage ausgenutzt hat oder

2. nach der Vertreibung in der sowjetischen Besatzungszone oder im sowjetisch besetzten Sektor von Berlin durch sein Verhalten gegen die Grundsätze der Menschlichkeit oder Rechtsstaatlichkeit verstoßen hat.

§12

Ausschluß bei Erwerb einer fremden Staatsangehörigkeit


(1) Rechte und Vergünstigungen als Vertriebener oder Sowjetzonenflüchtling kann nicht in Anspruch nehmen, wer nach der Vertreibung eine fremde Staatsangehörigkeit erworben hat oder erwirbt. Dies gilt nicht im Falle des § 1 Abs. 2 Nr. 1, es sei denn, daß die fremde Staatsangehörigkeit nach Inkrafttreten dieses Gesetzes erworben wird.

(2) Erwirbt ein Vertriebener oder Sowjetzonenflüchtling, der nach der Vertreibung eine fremde Staatsangehörigkeit erworben hat, die deutsche Staatsangehörigkeit, so kann er von diesem Zeitpunkt ab Rechte und Vergünstigungen als Vertriebener oder Sowjetzonenflüchtling in Anspruch nehmen, sofern die sonstigen Voraussetzungen dieses Titels gegeben sind.

§ 13

Beendigung der Inanspruchnahme von Rechten und Vergünstigungen


(1) Rechte und Vergünstigungen als Vertriebener der Sowjetzonenflüchtling nach diesem Gesetz kann nicht mehr in Anspruch nehmen, wer in das wirtschaftliche und soziale Leben in einem nach seinen früheren wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen zumutbaren Maße eingegliedert ist.

(2) Dasselbe gilt, wenn ein Vertriebener oder Sowjetzonenflüchtling in die in § 1 Abs. 1 und § 3 ,genannten Gebiete nicht zurückkehrt, obwohl ihm die Rückkehr dorthin möglich und zumutbar ist.

(3) Über die Beendigung der Inanspruchnahme von ',echten und Vergünstigungen entscheiden die zentralen Dienststellen der Länder (§ 21) oder die von hnen bestimmten Behörden. Die für die Inanspruchnahme von Rechten und Vergünstigungen zuständigen Stellen sind berechtigt, deren Beendigung zu tragen.



Dritter Titel

Erweiterung des Personenkreises

§ 14

Ermächtigung


Die Bundesregierung wird ermächtigt, durch Rechtsverordnung. mit Zustimmung des Bundesrates weitere Personengruppen, die von Verreibungs- oder vertreibungsähnlichen Maßnahmen )betroffen sind oder werden, den Vertriebenen oder Sowjetzonenflüchtlingen gleichzustellen sowie Voraussetzungen und Umfang der ihnen zu gewährenden Rechte und Vergünstigungen zu bestimmen.



Vierter Titel

Ausweise

§ 15

Zweck und Arten der Ausweise


(1) Vertriebene und Sowjetzonenflüchtlinge haben zum Nachweis ihrer Vertriebenen- oder ,Flüchtlingseigenschaft (§§ 1 bis 4) Ausweise, deren Muster der Bundesminister für Vertriebene bestimmt.

(2) Es erhalten
  1. Heimatvertriebene den Ausweis A,
  2. Vertriebene, die nicht Heimatvertriebene sind, den Ausweis B,
  3. Sowjetzonenflüchtlinge (§§ 3 und 4), die nicht gleichzeitig Vertriebene (Heimatvertriebene) sind, den Ausweis C.
(3) Die Ausweise derjenigen Vertriebenen und Sowjetzonenflüchtlinge, die nach §§ 9 bis 12 zur Inanspruchnahme von Rechten und Vergünstigungen nicht berechtigt sind, werden besonders gekennzeichnet.

§ 16

Zuständigkeit


(1) Den Ausweis stellen auf Antrag die von den zentralen Dienststellen der Länder (§ 21) bestimmenden Behörden aus. In den Fällen des § 9 Abs. 2 bestimmt das Land, in dem die Bundesregierung ihren Sitz hat, die zuständige Behörde.

(2) Der Antrag ist auf einem Vordruck zu stellen, dessen Fassung der Bundesminister für Vertriebene im Benehmen mit den zentralen Dienststellen der Länder (§ 21) bestimmt.

§ 17

Ablehnender Bescheid


Wird die Ausstellung des Ausweises abgelehnt oder der Ausweis gemäß § 15 Abs. 3 besonders gekennzeichnet, so ist dem Antragsteller ein schriftlicher mit Gründen versehener Bescheid zu erteilen.

§ 18

Einziehung und Ungültigkeitserklärung


Der Ausweis ist einzuziehen oder für ungültig zu erklären, wenn die Voraussetzungen für seine Ausstellung nicht vorgelegen haben.

§ 19

Vermerk über die Beendigung der Inanspruchnahme von Rechten und Vergünstigungen


Die Beendigung der Inanspruchnahme von Rechten und Vergünstigungen ist im Ausweis zu vermerken. Der Ausweis bleibt im Besitz des Inhabers.

§ 20

Rechtsmittel


Wird die Ausstellung des Ausweises abgelehnt, der Ausweis eingezogen oder für ungültig erklärt oder ein Vermerk gemäß § 15 Abs. 3 oder § 19 eingetragen, so sind dagegen die Rechtsbehelfe und die Rechtsmittel nach den in den Ländern geltenden Vorschriften zulässig.