Beschluß des Ministerrates der UdSSR: Über die Lage in der DDR

Entwurf (148), streng geheim

Der Ministerrat sieht es als notwendig an, eine Reihe von Maßnahmen zur Verbesserung der äußerst ungünstigen politischen und wirtschaftlichen Lage in der Deutschen Demokratischen Republik zu ergreifen, die ihren stärksten Ausdruck in der Massenflucht der Bevölkerung nach Westdeutschland findet.

Die Hauptursache der ungünstigen Lage in der DDR besteht in dem unter den gegenwärtigen Bedingungen falschen Kurs auf den forcierten Aufbau des Sozialismus in der DDR.

Das findet seinen Ausdruck in den Versuchen der deutschen Freunde (149) den beschleunigten Aufbau des Sozialismus in der DDR zu dekretieren, das Verdrängen und die Liquidierung der kapitalistischen Elemente in Stadt und Land durch direkten oder indirekten ökonomischen, administrativen oder anderen Druck auf die nichtwerktätigen Schichten zu forcieren, sowie darin, daß in der DDR ein extrem hohes Tempo beim Wachstum der nationalen Industrie eingeschlagen und unangemessen große Investitionen vorgenommen werden. Eine solche verfehlte (150) Politik führte zur Verschlechterung der Versorgung der Bevölkerung der Republik mit Lebensmitteln, Industriewaren, Heizmaterial und Elektroenergie.

Auf dem Lande drückten sich diese Fehler im Versuch aus, die Schaffung von Produktionsgenossenschaften (Kolchosen) künstlich zu forcieren, durch eine weitere Erhöhung der ohnedies schon harten Ablieferungspflichten bei landwirtschaftlichen Produkten, ins besondere für die wohlhabenden Schichten unter der dörflichen Bevölkerung, faktisch eine Entkulakisierung durchzuführen sowie in einer breiten Anwendung administrativer und gerichtlicher Maßnahmen zum Eintreiben der Rückstände bei Steuerzahlungen, Abgaben u. a. Es muß festgestellt werden, daß von sowjetischer Seite, wie nun zu sehen ist, seinerzeit falsche Orientierungen zu Fragen der kurzfristigen Entwicklung der DDR gegeben wurden.

Ausgehend vom Dargelegten beschließt der Ministerrat der UdSSR: Empfehlungen für die deutschen Freunde:

  1. Derzeit ist Abstand zu nehmen vom Kurs auf den forcierten Aufbau des Sozialismus.
  2. Es ist Abstand zu nehmen vom Kurs auf die Schaffung von Produktionsgenossenschaften (Kolchosen) auf dem Lande, zu verfolgen ist eine Linie der Festigung des Bündnisses zwischen Stadt und Land, zwischen Arbeitern und werktätigen Bauern auf der Grundlage von wirtschaftlichen und kulturellen Hilfeleistungen der Arbeiter für die Bauern.
    Die Hauptaufgabe der Arbeit auf dem Lande in der DDR ist in nächster Zeit die Herstellung eines richtigen Verhältnisses zu den Einzelbauern, insbesondere den Mittelbauern, indem auch weiterhin Maßnahmen zur Unterstützung der Einzelbauern mit Krediten, Düngemitteln, Futtermitteln, agrotechnischen Ratschlägen u. a. ergriffen werden.
    Zugleich sind MTS (151) und volkseigene Güter zu schaffen und zu festigen.
    Zu erhalten sind lediglich überlebensfähige und tatsächlich gefestigte Produktionsge-nossenschaften der Bauern.
  3. Die im Fünfjahrplan vorgesehenen, extrem angespannten Pläne der volkswirtschaft-lichen Entwicklung der DDR sind in Richtung einer Reduzierung zu revidieren. Einige für die Wirtschaft der DDR weniger wichtige Aufbau-Objekte, die große Investitionen erfordern und in nächster Zeit keinen bedeutenden Effekt bringen, sowie solche Aufbau-Objekte, die nicht mit den nötigen Ausrüstungen und Rohstoffen ausgestattet werden können, sind stillzulegen und zu konservieren.
  4. Sofort sind die nötigen Maßnahmen auszuarbeiten, die eine Steigerung der Produktion von Waren des täglichen Bedarfs und die Abschaffung des Kartensystems für Konsumgüter garantieren, wobei eine Verbesserung der Versorgung der Bevölkerung in den nächsten Monaten zu erreichen ist. Die bedeutende Rolle des Handwerks bei der Produktion von Waren des täglichen Bedarfs in Rechnung stellend, sind Maßnahmen zur Behebung und Entwicklung der handwerklichen Produktion zu ergreifen, indem die Bereitstellung von Rohstoffen, Elektroenergie und notwendigen Krediten für Handwerker wie kleine und mittlere Unternehmer wieder aufgenommen wird.
  5. Zu überprüfen sind die von der DDR-Regierung unlängst ergriffenen, unzulässig hastigen Maßnahmen zur Verdrängung und Begrenzung kapitalistischer Elemente in Industrie, Handel und Landwirtschaft, mit dem Ziel, diese Maßnahmen im Grunde zurückzu-nehmen. Zu überprüfen sind die Beschlüsse der Regierung der DDR bezüglich
    a) der Begrenzung der Versorgung von Privatunternehmen mit Rohstoffen, Elektroenergie und Heizmaterial sowie von privaten Händlern und Gaststättenbesitzern mit Waren;
    b) der Erhöhung von Steuern für Selbständige und der administrativ-gerichtlichen Eintreibung von Steuerrückständen für die vergangenen Jahre;
    c) der Neuzuordnung der Meister- und Kleinstbetriebe mit 5 bis 10 Arbeitskräften aus der Kategorie "Handwerker" in die Kategorie "Privatunternehmer";
    d) der Anwendung von Maßnahmen direkten oder indirekten Zwangs, die auf eine Entkulakisierung, auf die Abgabe von Kulakenland an den Staat und auf den Entzug von Krediten u. a. für Kulakenwirtschaften gerichtet sind.
  6. Die Abgabenormen bei landwirtschaftlichen Produkten, insbesondere die Normen für die wohlhabenden Schichten der Dorfbevölkerung, sind zu senken (durchschnittlich um 10-15 %).
  7. Zu erörtern ist die Frage der Streichung von Steuerrückständen der Privatunternehmer und der Handwerker in den Städten sowie von Abgaberückständen der Bauernwirtschaften, wobei gleichzeitig Maßnahmen zur Entwicklung des freien Handels auf Märkten in Städten und Arbeitszentren zu ergreifen sind.
  8. Noch stärker sind die Ausgaben für die Verwaltung in der Republik zu kürzen, indem ein strenges Sparsamkeitsregime durchgesetzt wird. Weiterhin sind Maßnahmen zur Festigung und Steigerung des Kurses der Mark der DDR zu treffen.
  9. Von Methoden des Administrierens gegenüber der Bevölkerung ist Abstand zu nehmen, Überspitzungen auf dem Gebiet der Strafverfolgung (152) sind zu beseitigen, notwendige Maßnahmenge zur Einhaltung der Gesetzlichkeit sind zu ergreifen.
  10. In nächster Zeit ist in der DDR eine große Amnestie durchzuführen, die sich sowohl auf Personen bezieht, die in der ersten Periode der Besatzungszeit wegen nazistischer Verbrechen verurteilt wurden, als auch auf Personen, die in den letzten Jahren für Verbrechen verurteilt wurden, die keine große Gefahr für die Gesellschaft darstellen, ausgenommen solche Personen, die wegen Spionage, Terrorakten, Diversion, vorsätzlichem Totschlag und großen Raub von Volkseigentum belangt wurden.
  11. Wesentlich zu verstärken ist die politische Arbeit unter den Arbeitern, Angestellten, der Intelligenz und unter den Bauern. Beim Aufstellen von politischen und wirtschaftlichen Losungen hat die SED die derzeitige Etappe in der Entwicklung der Deutschen Demokratischen Republik und die Aufgabe des Kampfes um die Einheit Deutschlands zuberücksichtigen153.
  12. Der DDR wird von seiten der Sowjetunion die nötige wirtschaftliche Hilfe zukommen, insbesondere auf dem Gebiet der Lebensmittelversorgung. Zu diesem Zweck sind:
    a) der DDR zu Bedingungen eines Kredits mit 1954-55 fälligen Ratenzahlungen zu erkaufen: 10.000 t Baumwolle, 3000 t Wolle, 2500 t Rohleder, 20.000 t Speiseöl, 10.000 t Butter, 20.000 t Zucker, 20.000 t Futtergetreide
    b) die Besatzungskosten für 1953 von 1950 Millionen Mark auf 1750 Millionen Mark zu reduzieren, für 1954 der Umfang der Besatzungskosten auf 1500 Millionen Mark festzulegen und für die Versorgung der sowjetischen Truppen auf Kosten der Sowjetunion eine Reihe von Waren sowjetischer Produktion einzuführen:
    c) das Ministerium für Binnen- und Außenhandel der UdSSR (Gen Mikojan) zu beauftragen, innerhalb von zwei Monaten einen Plan für Reparationsleistungen 1954-55 mit der Maßgabe zu erarbeiten, der Industrie der DDR feste, technisch dokumentierte Vorgaben für die Übernahme der Produktion zu liefern. Künftig sind Veränderungen an Reparationsaufträgen an die Industrie der DDR, die ohne Absprache der DDR vorgenommen wurden, verboten;
    d) Vorentscheidungen zu treffen hinsichtlich einer Verringerung der Lieferung von metall-intensiven Ausrüstungen (um 15-20 %) auf Reparationskonto, die durch andere Waren zu ersetzen sind;
    e) das Ministerium für Binnen- und Außenhandel der UdSSR (Gen. Mikojan) zu beauftragen, Vorschläge über den Verkauf von sowjetischen Unternehmen in der DDR in diesem Jahr zu unterbreiten.
  13. Der Hohe Kommissar der UdSSR in der DDR (Gen. Semenov) und Oberkommandierende der Gruppe der sowjetischen Besatzungstruppen in Deutschland (Gen. Grecko) sind zu verpflichten, Maßnahmen zur schnellsten Beseitigung von Unzulänglichkeiten im Besatzungsregime, die es auf seiten der sowjetischen Streitkräfte gibt, zu ergreifen und bis zum 15. Juli d. J. der Sowjetischen Regierung einen Bericht über die in diesem Zusammenhang getroffenen Maßnahmen zu erstatten.


Anmerkungen
148 O polo_enii v GDR, Entwurf, o. D., in: AVP RF, fond 06, opis' 12, papka 16, delo 263, listy 9-15. Erstveröffentlichung in: The Crisis Year. Die von Semenov verfaßte Vorlage (laut Harrison vom 31. 5. 1953, ganz sicher ist sie nach dem 27. 5. 1953 entstanden) enthält viele handschriftliche Korrekturen, darunter nicht entzifferbare. Übersetzung aus dem Russischen: Elke Scherstjanoi.
149 Gemeint ist die SED-Führung.
150 Im Russischen: "nepravil' naja politika" - "nicht richtige Politik".
151 Maschinen-Traktoren-Stationen - staatliche Unternehmen der Agrotechnik, die 1952/53 im Zusammenhang mit der Kollektivierung in der Landwirtschaft neu gegründet bzw. aus vomaligen Maschinen-Ausleih-Stationen (MAS) gebildet wurden.
152 Im Russischen: "Strafpolitik".
153 Dieser Satz wurde bei der handschriftlichen Überarbeitung durch einen größeren Passus ersetzt. Siehe Einleitung, S. 522f.

[Quelle: AVP RF, fond 06, opis' 12, papka 16, delo 263, listy 9-15, veröffentlicht von Elke Scherstjanoi, Die sowjetische Deutschlandpolitik nach Stalins Tod 1953, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, 46. Jg., Heft 3, München 1998, S. 543-546.]